Der Tagesspiegel, 18.02.2023
Vor knapp dreieinhalb Jahrzehnten fiel der „Eiserne Vorhang“, der Realsozialismus brach in sich zusammen und im Westen machte sich Aufbruchstimmung breit. Die liberale Demokratie wurde nun nicht bloß zum Sieger der Systeme, sondern – von manchen Politikwissenschaftlern – zum letzten Stadium der Geschichte ausgerufen. Die historische Entwicklung der menschlichen Gesellschaften sei zu ihrem segensreichen Ende gelangt, die Wonnen von Marktwirtschaft und Parlamentarismus würden auch die letzten Weltwinkel erreichen und ein Zeitalter von Freiheit und Wohlstand begründen. Und tatsächlich schien die westliche Demokratie zunächst ein politischer Exportschlager zu werden.
Der große Optimismus der Nachwendezeit aber ist längst einer totalen Ernüchterung gewichen. Ein autoritär-imperialistisches Russland, Chinas autokratischer Staatskapitalismus, antiliberale Rechtspopulisten, extremistische Formen des politischen Islam – Bedrohungen von innen und außen haben zugenommen, alternative Gesellschaftsentwürfe fordern unsere Lebensform auf breiter Front heraus. Die liberal-demokratische Ordnung ist längst in eine tiefgreifende Krise geraten.
Inwiefern aber liegen manche Anfechtungen des Liberalismus in ihm selbst begründet? Welche sozioökonomischen Mechanismen und historischen Erblasten sind es, die diese Ideologie so angreifbar machen? Und muss das „liberale Skript“ umgeschrieben werden, um im Kampf der Systeme bestehen zu können?
Zunächst einmal müsse man festhalten, dass es „den Liberalismus“ eigentlich nicht gebe, sagt Christoph Möllers, Professor für Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie an der HU. Stattdessen zeichne sich das „liberale Skript“ durch eine große Bandbreite von Denkschulen aus, die teils recht unterschiedliche Ideen vom liberalen Grundbegriff der Freiheit kultiviert haben. Individuelle und gemeinschaftliche Freiheiten stünden im liberal-demokratischen Diskurs von Anbeginn in einem Spannungsverhältnis und würden in den dergestalt verfassten Gesellschaften stets neu austariert, erklärt Möllers.
Den Glutkern des Liberalismus bilden die „negativen Freiheitsrechte“, die die einzelnen Bürger:innen vor Gewalt durch den Staat oder andere Individuen schützen. Doch "positive Freiheit“ spielt hier auch eine Rolle: Eine Freiheit, die erst mit den Ressourcen entsteht, theoretische Optionen auch ausschöpfen zu können. Staatliche Eingriffe, die alle Personen mit bestimmten Möglichkeiten ausstatten, gelten nicht notwendig als Einschränkung von Freiheit, sondern mitunter auch als ihre Bedingung. Nicht zuletzt die Sozialdemokratie sah es einst als ihre Aufgabe an, solche Freiheitsformen miteinander zu verbinden und über Regulierung dafür zu sorgen, dass die Freiheit nicht zur (Markt-)Freiheit einiger Weniger gegen die Freiheit der Vielen verkommt – aber eben auch nicht zur „Freiheit der Masse“, die letztlich die Freiheit des Einzelnen negiert.
Allein, welche theoretischen Modelle und historischen Ausformungen das liberale Denken auch hervorgebracht hat: Tendenziell habe im Westen in den letzten 40 Jahren ein Verständnis von Freiheit die Oberhand gewonnen, das Freiheit eher als persönlichen Besitz denn als gesellschaftlichen Zustand begreife – als privaten Egoismus, sagt Stefan Gosepath, Philosophieprofessor an der FU. Auch in der Pandemie wurde dies deutlich: Die staatlich orchestrierten Infektionsschutzmaßnahmen wurden mehr als Einschränkung von Freiheit diskutiert, anstatt als solidarisch-gesellschaftliche Antwort auf ein objektiv unfrei machendes Geschehen, mit der die Freiheit auch vulnerabler Personen durch gemeinschaftliches Handeln wiederhergestellt wird. Die hyperindividualistische Freiheitskonzeption des Neoliberalismus...