Nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ galt der Liberalismus als Sieger der Systeme. Der Optimismus der Nachwendezeit aber ist längst einer großen Ernüchterung gewichen. Ob völkisch gesinnte Rechtspopulisten, radikale Formen des politischen Islam, das neo-imperialistische Russland oder Chinas autokratischer Staatskapitalismus: Bedrohungen von innen und außen haben zugenommen, alternative Gesellschaftsentwürfe fordern unsere Lebensform auf breiter Front heraus.
Christoph David Piorkowski untersucht die Ideologien, Gesellschaftsmodelle und Machttechniken der autoritären Widersacher des Liberalismus und erklärt, in welcher Hinsicht die Demokratie für ihre Krise auch selbst verantwortlich ist – und wie sie sich verbessern muss, um weiter zu bestehen.
Der seit seiner Kindheit von Büchern umgebene Bürgersohn Sartre und der in bitterer Armut aufgewachsene Algerienfranzose Camus thematisieren auf je eigene Weise die prekäre Existenz des Individuums in einer absurden und gottlosen Welt. Für beide gilt: Ohne metaphysischen Kompass ist der Mensch zu einer furchterregenden und gleichzeitig berauschenden Freiheit verdammt, die ihm immense Verantwortung aufbürdet. Nach dem II. Weltkrieg geraten die beiden ehemaligen Weggefährten und überzeugten Antifaschisten an der Frage „Revolution oder Revolte?“ in Streit. Der Band erzählt vom Leben und Denken der vertrauten Feinde Sartre und Camus, die – beide als Existenzialisten gelabelt – alles in allem mehr trennte als verband.
Wie wirkt sich die Geschichte in der Gegenwart aus? Der Band versammelt wissenschaftsjournalistische Texte des Autors zu den Themen Antisemitismus und Rassismus, Bedrohungen der Demokratie sowie Holocaust und Erinnerungskultur. Christoph David Piorkowski nimmt die akademischen und gesellschaftlichen Debatten in den Blick, die zu diesen Themen im Resonanzraum verschiedener Großereignisse der jüngeren Zeitgeschichte geführt wurden. Von der sogenannten Flüchtlingskrise und dem Erstarken des Rechtspopulismus über die von antisemitischen Verschwörungserzählungen begleitete Coronapandemie bis zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, der das liberal-demokratische Ordnungsmodell vor neuerliche Schwierigkeiten stellt.
Primo Levi und Jean Améry haben beide die Hölle von Auschwitz durchlebt. Aus ihren Erfahrungen aber haben sie unterschiedliche Schlüsse gezogen. Während der italienische Jude Levi durch sein Zeugnis Erleichterung verspürt, wird der zum Juden gemachte Österreicher Améry in der Welt nicht mehr heimisch. Der Band erzählt vom Leben und Denken der beiden gegensätzlichen Persönlichkeiten, deren Schicksale gleichzeitig so viel verband – vom antifaschistischen Widerstand über die entmenschlichenden Erfahrungen im Konzentrationslager bis hin zum Versuch literarischer Bewältigung.
Ich habe lange überlegt, ob ich diese Geschichte aus den Studententagen meines verstorbenen Großvaters erzählen soll: als zusammengebasteltes Experiment eines Enkelsohnes, der den altersdementen Vater seiner Mutter nie wirklich kennengelernt hat, weil das aufkeimende Interesse an Philosophie und Literatur bloß noch auf langzeiterinnerte, poetische Gemeinplätze stieß. Eine Geschichte, die Otto C., wenn überhaupt, wohl ganz anders erzählt hätte.
Als mein Großvater 1934 nach Bern ging, weil die Begrenzung auf 1,5 Prozent Studenten „nichtarischer“ Abkunft an deutschen Hochschulen eine Einschreibung in Berlin quasi unmöglich machten, ahnte – vielleicht außer dem Meister in Deutschland – noch niemand das Ausmaß der in die Geschichte hinein treibenden Katastrophe. Für Otto war die Lage auch so schon denkbar schlecht. Er, dessen Großeltern ihre Söhne bereits hatten taufen lassen, dessen Heimat die deutsche Sprache war, der begeistert Nietzsche in sich aufsog und über E.T.A. Hoffmann zu promovieren gedachte, verstand nicht, weshalb er auf einmal zu den unerwünschten land- und „artfremden“ Elementen gezählt wurde.
Obwohl ihm das Praktische nicht unbedingt gelegen war, wie auch aus seiner Korrespondenz mit der Familie herauszulesen ist, von der er sammelwütig jeden einzelnen Brief (auch die lebensgefährlichen) durch die Zeit getragen hat, „fuchste“ er sich mit energischem Pragmatismus zurück in die Hochschullandschaft des Landes, das sein Land war und das ihn nicht einmal auf dem gleichen Planeten akzeptierte .
Er war in Bern zum Schriftführer der „Deutschen Studentenschaft“ avanciert und kultivierte sein romantisches Deutschtum, trotz Demütigung und Stigma. Durch die Vermittlung eines Pfarrers der Bekennenden Kirche, der mit Ottos Onkel 1914 im Feld gestanden hatte, gelang ihm im April 1935 der Wechsel nach Tübingen.
Otto ist also in Tübingen. Ich sehe ihn, wie er die Stadt in einsamen Spaziergängen erkundet. Otto weiß mit Kierkegaard, dass der romantische Ironiker das ist, was er sein will, und Otto will nicht jüdisch sein, Otto will überhaupt nichts sein, was ihn ein für allemal festnagelt. Er wohnt zur Untermiete bei Rechtsanwalt Jäger, dessen Schwester ihn mit breitem Schwäbisch vollsalbadert, aber rührselig bemuttert.
Es ist die Zeit kurz vor den Gesetzen von Nürnberg. Otto weiß nicht, dass das ein‘ oder andere Achtel vermeintlichen Blutes bald den schmalen Grat ausmacht zwischen unterprivilegiertem Leben und Auschwitz-Birkenau. Also gibt er alles korrekt an: Drei Großelternteile „nicht arisch“, Max und Wanda C., geb. Seligsohn, Rosa Furbach, geb. Heimann. Großvater mütterlicherseits arisch, Hans Furbach, dessen Sohn, ebenfalls Hans, sich 1914 freiwillig zur Front gemeldet hat und an der Seite jenes Pfarrers gefallen ist, auf dessen Engagement Otto überhaupt zu den 1,5 Prozent derjenigen gehört, die nach dem Ahnennachweis anstelle des kackbraunen einen gelben Studentenausweis in die Schublade legen.
Doch das ist Otto erst mal egal – gelb oder braun. Studieren, hier, in Deutschland, Promotion, akademische Karriere, auf zu neuen Morgenröten!
Ich sehe ihn, wie er die Pakete mit Süßigkeiten auspackt, die ihm seine Mutter aus Berlin geschickt hat. Wie er auf dem Fußboden sitzt, zwischen Bett, Ofen und Bücherregal, wie er die etwas betulichen Briefe aus dem Bayerischen Viertel überschwänglich beantwortet, mit Resten von Omas Pfingstkuchen zwischen den Zähnen. Er isst in der Mensa und im Hotel Krone für ein paar Pfennige und manchmal schmiert ihm Frau Jäger eine Stulle. Er liest Rilke und Jean Paul und nur bei der Rückmeldung zum neuen Semester brandmarkt ihn das gelbe Heftchen mit dem Signum: Du gehörst nicht dazu.
Aber Otto gehört ja dazu. Und ich weiß noch, wie er mir mit Ende Achtzig – geistig schon etwas zerfallen – ein paar Fotos gezeigt hat, und ich damals erschrocken bin, als er doch tatsächlich laut sinnierte, die 30er seien eine ganz phantastische Zeit gewesen.
Mit seiner gewinnenden Art findet Otto bald Anschluss. Im April 1936 – die Nürnberger Rassengesetze haben ihn längst zur Gruppe Gaskammer/Krematorium gemendelt – lernt Otto ein bisschen die Liebe kennen. Die Kursfahrt, auf der er der schöngeistigen Gudrun Gladow näher kommt, macht bestimmt die Schlacht ums Deutschtum für einen Moment vergessen. Ich sehe ihn, wie er sich nachts hinausschleicht, an den Schlafenden vorbei, wie er im Mondschein, abseits des Klosters Maulbronn, der nordischen Gudrun seine Verse vorträgt.
Und Otto macht Leibesübungen; gemeinsam mit seinem Freund Fritz Grütter, auch Germanist, der ihn beim Fechten zum Vorführobjekt degradiert. Schon früher einmal hat ihn die Mutter für ein paar Tage in einen Boxverein gesteckt, den der kleine Otto, zur Leselampe fliehend, verlässt.
Mit Fritz und Gudrun zieht er durch Tübingen. Gemeinsam besuchen sie die Seminare von Carlo Schmid und Graf Uxkull-Gyllenband, beide Anhänger des George-Kreises. Otto wird zum Protegé dieser Lichtgestalten in der ansonsten gleichgeschalteten Führerakademie. Stefan George und seine prophetische Lyrik müssen Otto begeistern, der gebannt in den erlauchten Kreis hineinwächst. Und wenn ich seine Briefe lese, in denen er die Tagesnotwendigkeit der George-Gemeinschaft schildert, pocht meine nostalgische Ader für den Bruchteil einer Sekunde – und dann weiß ich wieder, dass es wenig romantisch gewesen sein muss, als „Dreiviertel-Jude“ im Mai 1936 zur Musterung bestellt zu werden.
Otto hat eine Heidenangst. Seine jetzt weniger freimütigen Angaben müssen mehr retten als den akademischen Werdegang. Natürlich hat Otto kein Reichsbürgerrecht, wird aber für tauglich befunden und ist nun vor allem durch den vaterländischen Spring-ins-Feld-Onkel von 1914 zumindest militärbürokratisch den übrigen Kandidaten gleichgestellt. Otto ist hin- und hergerissen, Arbeitsdienst im April 38 und Möglichkeit auf reichsbürgerliche Rechte oder Zurückstellungsantrag, fertig studieren, vielleicht eine Dissertation zur deutschen Romantik, vielleicht auch nicht, weil dezidierte Kenntnisse von Hyperion und Blütenstaubfragmenten nichts wert sind, wenn man das falsche Blut hat. Erst mal abwarten.
Ich sehe ihn, wie er weiter seine schmutzige Wäsche verpackt und diese zusammen mit mal kryptischen, mal gefährlich konkreten Briefen an seine Mutter schickt. Es brennt ihm unter den Nägeln, doch bleibt ihm nichts, als die Wirklichkeit zu fliehen und sich in Luftschlösser zu flüchten. Und während er sich an Professor Kluckhohn die Zähne ausbeißt, weil dieser die Durchsicht seiner Seminararbeit schleifen lässt, passiert das Unglaubliche: die deutsche Bürokratie, die manische Formular- und Zettelwirtschaft, der Stempel aus der Maschine macht einen Fehler – vielleicht ist jemand farbenblind im Sekretariat der Eberhard-Karls-Universität – doch bei seiner Rückmeldung zum Sommersemester 1937 erhält Otto C. ganz unverhofft anstelle der gelben die braune Studentenkarte.
Er hält das Papier in den Händen, das sich so wenig von dem alten unterscheidet und doch so anders ist. Otto ist einundzwanzig, wie soll er ahnen, dass bald die Züge rollen. Er starrt auf die Karte, die die Bedingungen, aber nicht sein Selbstverständnis verändert. Er legt den Ausweis in die Schublade seines Nachttischs und löscht das Licht. Lange liegt er auf dem Bett im Dunkel und starrt zur Decke. Ja, er ist jetzt auch formal ein deutscher Student. Otto weiß – auch, wenn er das braune Heft wie selbstverständlich eingesteckt hat – dass da ein Fehler passiert ist. „Ich bitte euch, meine veränderte Studentenqualität mit Vorsicht anderen mitzuteilen.“, schreibt er nach Hause und erzählt dann vom Fahrradfahren und den Schwierigkeiten mit Kluckhohn. Der Professor weigert sich sein Dissertationsthema anzunehmen. Die narzisstische Kränkung drängt ihn zur Entscheidung: Ohne Respekt vor der mit Gewissheit erneut anstehenden Ahnennachweis-Arie entschließt sich Otto, in Tübingen die Zelte abzubrechen. Er wechselt nach Bonn; das Tübinger Studentensekretariat soll den Bonnern seinen Status als „Halbarier“ bestätigen.
Der Schwindel fliegt auf.
Als man im Wintersemester 37/38 ein Disziplinarverfahren gegen diesen Traumtänzer ins Rollen brachte, weil er nicht händeringend auf seiner gelben Studentenkarte bestanden hatte, rettete ihm ein Realist das Leben. Ottos Vater, den das Regime bereits 1933 aus seinem Richteramt am Preußischen Oberverwaltungsgericht gejagt hatte, entwickelte eine lupenreine verwaltungsrechtliche Argumentation. Otto habe vor den Gesetzen von Nürnberg seinen Nachweis erbracht, zu einem Zeitpunkt, als es eine Unterteilung in viertel, halbe, dreiviertel und wie auch immer geachtelte Juden noch nicht gab. Seine Großmutter Rosa sei in Wirklichkeit bloß „halbjüdisch“ gewesen, was damals unter „nichtarisch“ lief. Ob Otto C. nun zu drei Vierteln oder lediglich zu fünf Achteln „verdammt“ war, blieb für die Nazis im Dunkeln. Trotzdem wurde es jetzt auch dem Romantiker Otto zu gefährlich. Er verließ die Hörsäle und Seminarräume, um unterzutauchen in der grauen Uniform. Und während Familie C. seine Schwester kurz nach dem 9. November 1938 allein nach England schickte und sich sein Vater, der Realist, am ersten Weihnachtsfeiertag das Leben nahm, ging mein Großvater zur Wehrmacht. Er kämpfte nicht dagegen, sondern dafür. Manchmal wünsche ich ihn mir als einen Jean Améry, der, auf sein Judentum gestoßen, der Résistance beitritt, der annimmt, worauf man ihn festnageln will, und trotzig auf sein Deutschtum spuckt. Und dann weiß ich wieder, dass ich das nicht verlangen kann und froh sein muss, dass mir sein Leugnen dieses Achtels das Leben geschenkt hat, ein Achtel, auf das ich Wert lege und das mich emotional mit dem verbindet, was Otto C. Zeit seines Lebens von sich gewiesen hat. Als es bloß noch Schollen von Erinnerung gab und Otto nachts schweißgebadet schrie: „Ich bin nichtarisch!“ – zu einem Zeitpunkt, als er seinen Enkel nicht mehr erkannte –, wurde deutlich, dass ihn das Stigma mehr geprägt hatte, als er zugeben konnte.
Die Arbeit untersucht die kritischen Projekte Friedrich Nietzsches und Emmanuel Lévinas', die auf je eigene Weise gegen den aus ihrer Sicht totalitär-indifferenten Charakter der epistemologischen und moralischen Diskurse des Abendlandes andenken.
Nietzsche optiert gegen den Primat des Allgemeinen für eine leiblich fundierte Ethik der Selbstbestimmung, Lévinas hingegen für eine Ethik der lebendigen Verantwortung im Angesicht des anderen Menschen. Verhandelt werden hier die Schnittmengen und Trennlinien zweier Denker, die in ihren asymmetrischen Ethik-Konzepten mehr gemeinsam haben, als es zunächst scheint. Der Autor möchte mit den vermeintlichen Antipoden Nietzsche und Lévinas daran erinnern, dass die Verantwortung des Einzelnen über jede Kodifizierung erhaben bleibt.