Philosophie Magazin / 04.06.2025
Allein, dass Trump keine hehren Motive verfolgt, macht manche Adressaten seiner Staatsrepression nicht im Umkehrschluss zu den Streitern für das Gute. Jüngst hat das Philosophie Magazin einen Text publiziert, in dem die These formuliert wird, der Unterschied zwischen den Studierendenprotesten gegen den aktuellen Krieg im Nahen Osten und der Trump-Invektive sei „die Sorge um die Welt“. Zugleich gefährde der politische Eingriff das im Harvard-Motto „Veritas“ zum Ausdruck kommende Wahrheitsstreben der Akademien. Zweierlei stelle ich mit Nachdruck in Frage – dass die „Sorge um die Welt“ das primäre Motiv vieler aktivistischer Studierender ist, und ferner, dass der Kosmos jener Universitäten eine ideologiefreie Wahrheitsstätte darstellt. Vielmehr gibt es einige recht gute Gründe – nicht bei allen, aber sicherlich bei vielen der Protestler – den Antisemitismus des guten Gewissens als unbewusst kollektives Movens zu erachten. Oder zumindest eine weitgehend empiriebefreite Weltsicht, die mit Gut-gegen-Böse-Schematismen operiert und sich für antisemitische Wahrnehmungsweisen als strukturell anschlussfähig erweist, respektive sich gut dafür eignet, flottierende Affekte ideologisch zu binden.
Hass und Freude am 7. Oktober
Zunächst einmal begannen die Proteste eben nicht erst, als der Krieg, den Hamas und andere Gruppen, gegen den jüdischen Staat initiierten, viele Menschen in Gaza das Leben kostete. Wäre dem so gewesen, wäre die These von „der Sorge um den anderen“ noch halbwegs plausibel.
Auch dann wären die meisten der Proteste auf den Campus (in den USA und in anderen Ländern) ob ihrer völligen Distanzlosigkeit zu den radikalislamistischen Rackets und deren mörderischem Antisemitismus, einer fehlenden Kritik der Gewaltherrschaft in Gaza, der Leugnung oder Bagatellisierung des Kriegsgrunds und der seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart dauernden Geschichte vernichtungsantizionistischer Gewalt des panarabischen Nationalismus, der nationalistischen Bewegung Palästinas und des Islamismus scharf zu kritisieren.
Hier hätte man indessen noch die Hoffnung haben können, dass es trotzdem das Leiden der zivilen Opfer ist, dass die Studenten aus der Alma Mater auf die Straße treibt. Und dass die Gründe einer de-realisierenden Betrachtung, die sämtliche Ambiguitäten verleugnet, und die hochkomplexe Geschichte des Konflikts aus einer radikalen Tunnelperspektive betrachtet, lediglich in selbstgerechtem Unwissen liegen – und im Bedürfnis, zu den Guten zu gehören. Das allein aber reicht als Erklärung nicht hin.
Die Proteste nämlich brachen bereits deutlich früher los, noch lange vor den ersten IDF-Bombardements, vielerorts tatsächlich schon am 7. Oktober, dem Tag, des mit Abstand schlimmsten Verbrechens, das an Juden seit der Shoah verübt worden ist – und formten sich schnell zur Aktivistenavantgarde globalantisemitischer Eskalation.
Wo war die studentische „Sorge um den anderen“, als die Mordbatallione von Hamas und Konsorten, begleitet auch von Zivilisten aus Gaza, in die südisraelischen Kibbuzim einfielen, jene Orte wohlgemerkt, die nicht von Siedlern bewohnt sind, sondern vielfach von dezidiert linken Aktivisten, die seit Jahren um Frieden und Ausgleich bemüht sind, und die außerdem im Kernland Israels liegen?
Hier blieb sie stumm, die „Sorge um die Welt“. Sich selbst als Feministinnen bezeichnende Akteure – sowohl Einzelpersonen als auch Organisationen – ließen hundertfachen Femizid und Massenvergewaltigung, trotz Dokumentation der Verbrechen durch die Täter, nicht als einen Teil der Wirklichkeit gelten, oder logen das Massaker zum Befreiungskampf um.
Ja, mehr noch, viele „Linke“ waren elektrisiert, das genozidale Bestreben der Hamas löste bei nicht wenigen Studierenden und Lehrenden in den USA Begeisterung aus, die psychodynamisch mit Hass korrelierte, der sich prompt – wie gesagt schon am 7. Oktober – gegen das attackierte Israel wandte. Sowie gegen jene, die man auf den Campus als Vertreter Israels in Spuckweite ansah, genaugenommen also alle Jüdinnen und Juden, die dem „bösen Zionismus“ nicht abschwören wollten und sich weigerten, den einzigen jüdischen Staat als besonderen Schutzort vor Antisemitismus zum Urheber jedweden Leids zu erklären.
Noch am 7. 10. 2023 treffen sich Studierende in Harvard, um ihrer vermeintlichen Solidarität mit den Palästinensern Ausdruck zu verleihen. 34 Organisationen der Uni unterschreiben eine schuldprojektive Erklärung des „Palestine Solidarity Comittee“, in dem unter anderem folgendes steht: „Wir machen das israelische Regime in vollem Umfang für alle Gewalttaten verantwortlich. (…) Wir rufen die Gemeinschaft von Harvard dazu auf, Maßnahmen zu ergreifen, um die fortschreitende Vernichtung der Palästinenser*innen zu stoppen.“ Eine lupenreine Umkehr von Täter und Opfer. Nicht ein einziges Wort zur Gewalt der Hamas, die mit dem Rassismus der niedrigen Erwartungen wie so oft als passive Objekte entmündigt und in ihrer freimütig artikulierten Vernichtungsagenda nicht ernst genommen wird. An der Brown University im Bundesstaat Rhode Island bringt die Gruppe „Students for Justice in Palestine“ wenige Tage nach dem 7. Oktober, als man in Nir Oz noch die Leichenteile birgt, eine ähnliche Erklärung wie in Harvard zuwege; 50 Hochschulgruppen werden unterschreiben: Das „israelische Regime“ wird als schuldig gebrandmarkt, zur Solidarität mit dem „Widerstand“ geblasen. Nun wird in zahllosen Unis im Land – und bald in allen westlichen Ländern der Welt – zu sogenannten Widerstandsdemos aufgerufen. Man feiert die beherzte „Überraschungsaktion“ gegen den verhassten „zionistischen Feind“. Allenthalben wird gefordert, „Palästina zu befreien“, „from the river to the sea“ ist die populäre Formel, auch wenn viele der Studenten offensichtlich nicht wissen, von welcher sea und welchem river sie da eigentlich reden.
An der berühmten George Washington Universität projizieren Studenten „Glory to our Martyrs“ an die Außenwand der Universitätsbibliothek, feiern also kurz nach dem 7. Oktober den Todeskult des radikalpolitischen Islam. In New York sind Studierende mit Schildern zu sehen, auf denen ein Davidstern abgebildet ist; der Satz, der daneben steht, – „Keep the world clean“ – erinnert an den parasitologischen Wahn des klassisch-völkischen Antisemitismus. Auch einige Lehrende zeigen sich begeistert, ja regelrecht beseelt vom Massaker der Hamas, andere, weniger forsche Dozenten verweigern den Opfern und den jüdischen Studenten zumindest ihre Solidarität und ihre Hilfe. Die Präsidentinnen dreier großer Universitäten kriegen es ersichtlich nicht über die Lippen, den Hass in ihren Institutionen zu verurteilen. An manchen der Elite-Universitäten sind schon im November 2023 vier Fünftel der jüdischen Studierenden besorgt über die brodelnd-feindliche Stimmung gegen sie. Zahlreiche Juden auf den Campus geben an, beleidigt, bedrängt und belästigt zu werden, in diversen Fällen kommt es auch zu tätlicher Gewalt.
Vergleichbares wird sich überall wiederholen. Dass ein pseudoprogressiver Aktivist zuletzt ein jüdisches Paar ermordet hat, das für die israelische Botschaft in den USA tätig war, und dafür von Antiimperialisten, etwa der Gruppe Unity of Fields, als antizionistischer Held gefeiert wurde, ist der vorläufige Höhepunkt der Extremisierung „linken“ Judenhasses in den USA; kann nach allem, was passiert ist, aber kaum mehr überraschen.
10/7-Aftermath
Wer sich seither mit Jüdinnen und Juden unterhält – in den USA, doch auch in England oder Deutschland – ist häufig mit nackter Verzweiflung konfrontiert. Nicht nur deshalb, weil antisemitische Symbole und Reden an den Unis meist normalisiert sind; nicht nur, weil öffentliches jüdisches Leben oft nur hinter Panzerglas stattfinden kann, und man allenthalben mit Gewalt rechnen muss, wenn man es wagt, öffentlich eine Kippah zu tragen; sondern auch, weil man sich vielfach von jenen verraten fühlt, deren emanzipatorische Kämpfe – etwa von Queers oder People of Colour – man Jahre lang leidenschaftlich mitbestritten hat. So berichtet es etwa der Student Dov Forman, der öffentlich, auch auf seinem Campus in London, sichtbare Insignien des Judentums trägt und dort häufig bedrängt und bespuckt worden ist. Nicht von ungefähr hat die israelische Soziologin Eva Illouz bekennen müssen, dass sie aus dem „Wir“ einer weltweiten Linken durch den 7. Oktober verbannt worden sei. Psychische Erkrankungen und Aliyah-Gesuche sind seit diesen Tagen beträchtlich gestiegen. Viele haben Furcht vor dem selbstgerechten Mob, der die Campus von Universitäten bevölkert, sie meiden die Uni längst, igeln sich ein, wollen einfach nur noch weg aus diesem manifesten Irrsinn der Welt in der Post-10/7-Epoche. Spricht man mit jüdischen Gemeindemitgliedern, stellen nicht wenige zur Disposition, ob es, wenn der Hass sich weiter so entlädt, in Europa bald noch ein Judentum gibt. Der Chef der europäischen Rabbinerkonferenz, Gady Gronich, hat öffentlich dasselbe bekundet.
Doch sehr viele Menschen der Mehrheitsgesellschaft nehmen den Antisemitismus kaum wahr. Und während Juden in Europa auf gepackten Koffern sitzen, weil sie nicht wissen, wie lange sie den Hass noch ertragen können, sind manche „Experten“ primär darum bemüht, das Phänomen Antisemitismus zu verrätseln sowie definitorisch in der Schwebe zu halten, und damit 30 Jahre Forschung komplett zu ignorieren.
So scheinen viele Akademiker, nicht zuletzt in Deutschland, mehr um die Freiheit zur Hassrede besorgt, als um die Freiheit von jüdischen Studierenden. Als skandalös wird oft weniger der Antisemitismus als vielmehr dessen Skandalisierung empfunden. Wie oft in der Geschichte wird Gewalt gegen Juden in den Vorwurf des Antisemitismus projiziert, als „Angriff auf die Kunst- oder Wissenschaftsfreiheit“. Als wäre nicht der dämonisierende Boykott israelischer Künstlerinnen und Forscher das Problem, sondern der in Unis und Kulturinstitutionen nach wie vor seltene Boykott der Boykotteure. Viele scheinen den Antisemitismusvorwurf jedenfalls schlimmer zu finden als den Antisemitismus selbst; setzen ihre Namen unter offene Briefe gegen „repressiven Anti-Antisemitismus“, anstatt sich mit Juden zu solidarisieren.
Was das Entsetzen vieler Juden über die Gewalt des 7. Oktober und die antisemitischen Ausschreitungen auf dem Planteten verstärkt, sind der Umstand mangelnder Solidarität, das laute Schweigen und die Gleichgültigkeit weiter Teile der Mehrheitsgesellschaft und insbesondere von „progressiven“ Kreisen. Für Jüdinnen und Juden bedeutet 10/7 eine langfristig doppelte Verunsicherung: Sowohl das Leben in sämtlichen Ländern der Diaspora, als auch jenes im vermeintlichen Nothafen Israel ist seit dem 7. 10. gefährlicher geworden. Wo soll man noch hin, lautet die drängende Frage, wenn das Ressentiment in Gewalt umschlägt, und in jedem Weltwinkel Ungemach droht?
Denn 10/7 hat die traurige Erkenntnis bestätigt, dass selbst ein eliminatorischer Antisemitismus, vor dessen Grausamkeit die menschliche Sprache versagt, weiteren Antisemitismus erzeugt, anstatt wirkliche Kritik durch die Mehrheitsgesellschaft. Das Pogrom entriegelt den gehemmten Affekt, auch bei denen, die das Grauen aus der Ferne betrachten.
Der antisemitische Vernichtungsexzess, den die Hamas in aller Offenheit vollführt hat, und der ihre bereits in der Gründungscharta freimütig publizierte Absicht widerspiegelt, hat bei sehr vielen Menschen auf dem Globus gerade nicht dazu geführt, sich gegen Judenhass zu positionieren. Stattdessen vernimmt man ein dröhnendes Schweigen, auch von Menschen, die man eigentlich als Freunde vermeinte. Stattdessen bricht das schwelende Ressentiment in den verschiedensten Segmenten der Gesellschaft nun immer aggressiver und unverhohlener auf. Die Mauern der postnationalsozialistischen Tabuzone offener Feindschaft gegen Juden waren immer schon wacklig und stürzen jetzt ein.
Israel und Palästina als Projektionsflächen
Die Leichen des Massakers waren noch warm, da startete in zahllosen Ländern der Welt, und hier zuvörderst an den Universitäten, die für den Antisemitismus typische schuldprojektive Empörungsmaschine. Im Angesicht des antizipierten Gegenschlags, den die Israelis wohl ausüben würden, sprachen die notorischen Israelhasser schon von einem Genozid an Palästinensern, noch bevor die IDF Richtung Gaza marschierte. (Im Grunde sprechen sie von diesem schon seit Jahren – so ist in den sogenannten Settler Colonial Studies oft von einem „strukturellen Genozid“ die Rede, wobei auch die Vergabe israelischer Pässe und „Mischehen“ als genozidal gelabelt werden). Selbst durch Massenvergewaltigung und Folter von Frauen oder das Töten von Kindern im Beisein ihrer Eltern wurde das binäre Wahrnehmungsmuster, in dem die Israelis als bösartige Täter und die Palästinenser bloß als Opfer erscheinen, vielen Menschen nicht als das offenbar, was es ist: Ergebnis sedimentierter Geschichte, Produkt einer 2000-jährigen Erzählung, in welcher „die Juden“ als „das Böse“ erscheinen. Das vom Antisemitismus geprägte Bewusstsein erträgt es nicht, „den Juden“ als Opfer zu gewahren (zumindest nicht den lebenden „Jew in the flesh“, der tote Jude als Opfersymbol, als sprachliche Hülse für das Opfer an sich, als „figuraler Jude“ darf durchaus existieren). Die konkreten Opfer, als „Juden von heute“, wie nicht wenige Postmodernisten formulieren, sind hier notwendig die Palästinenser, und somit nicht zuletzt die Terroristen der Hamas, die der „Kontext“ zum Lynchmord an Frauen verleite, wie manch linke Denker prompt insinuierten.
„Palästina“ muss, wie „Israel“, – mit umgekehrten Vorzeichen – häufig als blanke Projektionsfläche herhalten, die wirklichen Verhältnisse sind kaum von Belang. Selten geht es um das Wohl der Palästinenser (und freilich nicht um das von Juden oder Israelis). Denn wer sich tatsächlich um Gewaltopfer scherte, wäre in seinem entäußerten Mitleid nicht bloß nicht radikal selektiv und würde auch massenvergewaltigte Jüdinnen in seine Sorge um die Menschheit inkludieren; vor allem würde ihn das Leid auch dann interessieren, wenn es von Nicht-Juden zugefügt wird. „Free Palestine“ muss immer auch bedeuten „from Hamas“, denn was soll diese „Freiheit“ ansonsten bedeuten?
Wer sich wirklich für Kinder in Gaza interessierte, die die Hamas als Schutzschild missbraucht, würde von letzterer mit Nachdruck verlangen, die Geiseln freizulassen und die Waffen zu strecken. Den „Queers for Palestine“ sind Queers in Palestine egal, sonst müssten sie sich gegen die Hamas engagieren, die queeres Verhalten mit dem Tode bestraft. Wer für Palästina ist, und nicht bloß gegen Israel, müsste der Hamas und auch der Fatah, die beide einen sehr großen Anteil daran haben, dass ein Staat Palästina bislang nicht existiert, in den Kanon der Kritik-Adressaten integrieren. Echtes Engagement für die Palästinenser würde diese in die Gleichung des Konflikts integrieren, und sie als Subjekte nicht unsichtbar machen.
„Propalästinensisch“, wie es allenthalben heißt, ist an den weltweiten Demos mithin wenig. Eine wirklich propalästinensische Haltung würde sich zur proisraelischen Haltung nicht in einem radikalen Widerspruch befinden. So würde sie den Rechts-Zionismus kritisieren, die fanatischen Teile der Siedlerbewegung, die die Westbank als Teil von Erez Israel begreifen, die autoritäre Regierung Netanjahus, die nationalreligiösen, rassistischen Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, mit ihren tatsächlich genozidalen Visionen, die häufige Schikane an den Checkpoints im Land, den Bau von Siedlungen in Teilen der Westbank, und Kriegsverbrechen im laufenden Krieg, sowie auch in dem von 1948.
Doch diese wirklich propalästinensische Haltung würde zugleich auch anderes betonen, und die Ambiguität der Lage durchdenken: Sie würde erkennen, dass der Mehrheitszionismus mit Kolonialismus eher wenig zu tun hat, vielmehr als notwendiger Ausweg erschien, mit dem sich die Juden nach 2000 Jahren Verfolgung und Vernichtung eine Heimstätte schufen.
Sie würde nicht verschweigen, dass der Plan der UN zur Teilung des britischen Mandatsgebiets in Palästina im Jahr 1947 vom Jischuv begrüßt, von arabischer Seite aber abgelehnt wurde, die sofort mit einem Krieg gegen jenen begann. Sie würde nicht verschweigen, dass die Flucht und Vertreibung von 700.000 Palästinensern im schicksalsreichen Jahr 1948 nicht ob zionistischer Bosheit geschah, sondern Resultat eines Vernichtungsfeldzuges erst der Arab Liberation Army, und schließlich von sechs arabischen Nationen war, die den jungen jüdischen Staat überfielen und deren Ziel es war, die Juden ins Mittelmeer zu treiben.
Ferner würde sie auch die Vertreibung von 900.000 Jüdinnen und Juden aus den arabischen Ländern erinnern, die auf die Staatsgründung Israels folgte. Eine wirklich propalästinensische Haltung würde nicht den Antisemitismus verleugnen, als unikale Weise des Denkens und Fühlens, den die Führer der Araber in Palästina, Amin al-Husseini und Fausi al-Kawukdschi, beide glühende Anhänger der Nazis, in Teilen Palästinas stark popularisierten – und der vielfach Pogrome an Juden evozierte. Sie würde nicht verleugnen, dass die Opfer der Shoah, die sich vor den Gaskammern im Osten Europas mit Mühe in das Land ihrer Vorfahren retteten, seit der Gründung ihres winzigen Staates permanent von Vernichtung bedroht waren.
Sie würde nicht die Land-gegen-Frieden-Politik des Zionismus in den 60er-Jahren verleugnen, und die absoluten „Neins“ der arabischen Staaten im Rahmen der Resolution von Khartum, nicht die Friedensvorschläge Ehud Baraks (2000) und Ehud Olmerts (2008), sowie jenen von John Kerry aus dem Jahr 2014. Sie würde nicht verschweigen, dass die Hamas seit dem Abzug Israels 2005 große Teile Gazas in eine Art Rampe für nach Israel zielende Raketen transformierte, Unsummen an Hilfsgeldern im Tunnelbau versenkte und fünfmal Krieg gegen Israel führt(e). Sie würde nicht verleugnen, dass viele Menschen in den palästinensischen Gebieten antisemitisch verhetzt sind, und laut einer aktuellen Erhebung 77,7 Prozent der Menschen im Westjordanland und 70,4 Prozent der Menschen in Gaza eine rein palästinensische Einstaatenlösung wollen, also eine, die auch einen solchen Staat ablehnt, in dem beide Völker zusammenleben würden. Eine wirklich propalästinensische Haltung würde nicht „Yallah Intifada“ skandieren, sondern Bombenattentate in den Bussen Tel Avivs als jenen Terrorismus verurteilen, der sie sind.
Eine wirklich propalästinensische Haltung würde nicht den Maximalismus verleugnen, den die Fatah in Verhandlungen zeigte, wenn sie stets auf das sogenannte „Recht auf Rückkehr“ sämtlicher Nachfahren der Menschen bestand, die die Gegend im Jahre 48 verließen. Eine Rückkehr auch ins israelische Kernland, die das Ende Israels als jüdischem Staat und damit auch das Ende des Schutzraums bedeutete, des winzigen Ortes mit der Größe von Hessen, wo der Jude nicht als ewiger Fremder erscheint, sondern einfach Mensch unter Menschen sein kann; das Ende des einzigen Gebietes auf der Erde mit einer jüdischen Mehrheitsgesellschaft – weshalb diese Forderung der Palästinenser für den Judenstaat niemals akzeptabel sein könnte, da sie im Rahmen der Debatte um zwei souveräne Staaten den Sinn der Zwei-Staaten-Lösung unterminierte.
Sie würde nicht verleugnen, dass der Rückzug aus der Westbank für Israel ein riesiges Risiko wäre, solange sich die Hamas-Terroristen dort einer großen Beliebtheit erfreuen, und dass die Rackets mit dem Ende der dortigen Besatzung spätestens am nächsten Tag die Macht ergriffen hätten, um weitere Oktoberpogrome zu planen.
Eine wirklich propalästinensische Haltung würde also niemals die Tatsache leugnen, dass der Grund für die fehlende Koexistenz eines Staates Israel und eines Staates Palästina nicht nur bei den Falken in Jerusalem zu suchen ist, sondern auch in der Haltung der Palästinenser. Kurz, wer wirklich am Staat Palästina interessiert wäre, und nicht bloß daran, an „den Palästinensern“ seine projektiven Bedürfnisse zu stillen, würde verstehen, dass die Sache kompliziert ist und auf manichäische Logiken verzichten.
Auch müsste er oder sie, also die Friedensbemühten, Palästinenser wie Hamza Howidy und Mohammed Altlooli solidarisch unterstützen, die wirklich propalästinensisch agieren, die um echte Debatte und um Ausgleich bemüht sind, die die rechte israelische Regierung kritisieren, und deren Unwillen, den Krieg zu beenden, aber auch die historisch-politischen Fehler der Palästinenser nicht vollends verleugnen; die für ein demokratisches Palästina werben, Seite an Seite mit dem Staate Israel; die von Hamas zu Freiwild erklärt worden sind – aber weder von der palästinensischen Diaspora noch von den „progressiven“ Menschen an den Unis nennenswerte Solidarität erfahren haben. Genauso wenig wie die Menschen in Gaza, die gegen die Herrschaft der Hamas demonstrieren: Sie werden von der kulturalistischen Linken als Akteure schlicht nicht zur Kenntnis genommen, weil sie den „figuralen Palästinenser“ irritieren, die Imago vom harmonisch-indigenen Kollektiv, das sich dem Zionismus als vermeintlich schlimmster Ausprägung westlichen Kolonialismus‘ widersetze.
Da es also nicht um den wirklichen Konflikt geht, sondern dieser durch ein projektives Prisma gesehen wird, in dem es keinen Platz für Graustufen gibt; und sich die besorgten Protestler an den Unis auch wenig bis gar nicht für Menschheitsverbrechen im Kongo oder im Sudan interessieren, nicht für das Lagersystem in Nordkorea, die Internierung und Misshandlung der Uiguren in China, den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, oder tausende vom Staat ermordete Queers im von den Mullahs beherrschten Iran, kann man eine Art Obsession unterstellen – es geht nicht um das Leiden der Palästinenser, sondern darum, wer es ihnen aktuell zufügt. Dies ist kein Whataboutism-Argument, mit der eine völlig legitime Kritik an der Kriegsführung Israels blamiert werden soll. Der obsessive Fokus auf die „Opfer der Juden“ macht es nötig, die Funktion der „Kritik“ zu hinterfragen. Natürlich muss man Mitleid mit den Menschen in Gaza haben und soll dieses Mitleid auch artikulieren. Und natürlich kann man gegen diesen Krieg demonstrieren. Doch geht es nicht nur darum, ob Kritik legitim ist, sondern auch welche Bedürfnisse sie letztlich erfüllt.
Und was sich hier eben immer wieder zeigt, ist, dass keine Gewalt eine so intensive Empörung evoziert, wie diejenige, die israelische Juden verüben. „No jews, no news“ ist der implizite Leitfaden antisemitischer Affektökonomie. Israelbezogener Antisemitismus grassiert auch ohne das Leiden in Gaza. Er stellt sich an diesem lediglich scharf, um sich dann hemmungslos auszuagieren. Die „Kinder in Gaza“ können ein nützliches Mittel sein, um Hass mit Humanität zu ummanteln und den Antisemitismus als ehrbar auszugeben.
Umweg-Kommunikation und ehrbarer Antisemitismus
Der Judenhass hat eine lange Geschichte. Wie die Antisemitismusforschung offenbart, lagert er oft gleichsam in den Falten des Geistes, um, durch die richtigen Impulse getriggert, aus der Latenz heraus ins Manifeste umzuschlagen.
Seit die Kirchenväter in der Spätantike den Juden als Archetypus des Bösen erfanden, hat sich das antijüdische Ressentiment im Medium der Sprache und den Gütern der Kultur über Generationen hinweg weiterverbreitet und stets dem jeweiligen Zeitgeist angepasst. Wie die Kognitionswissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel formuliert hat, lagert das uralte Ressentiment im kulturellen Gedächtnis des Westens (und inzwischen auch in dem der muslimischen Welt) als „geistiges Gift mit depotartiger Wirkung“. Antisemitische Gedanken- und Gefühlsmuster sind derart tief im kollektiven Habitus verankert, dass antijüdisch konnotierte Begriffe und Erzählformen diese automatisch aktivieren.
Seit dem Holocaust zeigt sich Antisemitismus indes häufig in einer sich selbst verleugnenden und mithin oberflächlich camouflierten Form. Seine aktuell gängigste Artikulation, das zeigen alle großen empirischen Studien, findet er in sogenannter „Israelkritik“, in der klassisch antisemitische Motive wie Kindermord, Rachsucht, Medienkontrolle, Zersetzung, Täuschung und heimliche Machenschaften häufig eins zu eins aufzufinden sind. So lässt sich das Ressentiment artikulieren, ohne „die Juden“ beim Namen zu nennen. Im „Pali-Washing“ des Antisemitismus zeigt sich die Umweg-Kommunikation des postnazistischen Antisemitismus, der sich als moralische Haltung verkauft.
Die im psychischen Apparat des antisemitischen Subjekts flottierende antisemitische Affektstruktur als gleichsam verkörpertes Geschichtssediment einer 2000 Jahre alten Dämonologie, ist jenem dabei keineswegs notwendig bewusst. Wo das postnationalsozialistische Über-Ich den vulgären Rasse-Antisemitismus als moralischen Fauxpas markiert hat, rationalisiert sich die vom Judenhass durchdrungene Person ihr verschwiemeltes Ressentiment im Antizionismus als ehrbares Gebot zurecht. In der sogenannten „Israelkritik“ erhält der durch die Schande von Auschwitz bedingte antisemitische Affektstau ein Ventil. Der „Jude unter den Staaten“ wird zum Blitzableiter des antisemitischen Emotionsgewitters. Nun soll der Judenfeind wieder, was er will und lebt seinen Hass ohne Störgeräusche aus. Der Hass gibt ihm oder ihr gar das Gefühl, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.
Postkoloniale Irrungen
Antisemitismus kommt überall vor, rechts und links und in der Mitte der Gesellschaft, in der Schule, der Uni, im Verein, und im Büro, in der Kirche, der Moschee und im bourgeoisen Feuilleton. Linke sind für den Antisemitismus keineswegs „begabter“ als andere Menschen. Doch warum sind es aktuell die Universitäten, in denen sich der Judenhass so grell artikuliert?
Hier wird zur Erklärung seit dem 7. Oktober oft die vielfach zu einer beinahe neovölkischen Ideologie depravierte postkoloniale Theorie herangezogen. Tatsächlich haben postkoloniale Narrative in Teilen der linksakademischen Welt und in vielen Sphären von Kunst und Kultur, fast schon den Charakter eines Wissensregimes. Dessen Dogmen werden dabei oft kaum hinterfragt. Dies auch vielfach nicht im linksliberalen Milieu, das die wolkigen Begriffs- und Theoriebildungen des basistheoretischen Postkolonialismus anscheinend immer öfter mit der Wirklichkeit verwechselt.
Mit „Veritas“, dem stolzen Motto von Harvard, hat dieses „Denken“ eher wenig zu schaffen. Wie der Soziologe Balázs Berkovits sich ausdrückt, geht der explizite Aufruf zur politischen Aktion der theoretischen Betrachtung hier konsequent voraus. Was nicht passt, das wird passend gemacht, man kapriziert sich auf jene Fragmente der Erfahrung, die „den Manichäismus“ bestätigen helfen und blendet zugleich alles andere aus. Im Maschinenraum des Geistes werden im Akkord die gleichen projektiven Bilder produziert, die fremde Erfahrung mit Bekanntem ummantelt, bis sie sich in letzterem aufgelöst hat. Ein hermetisch geschlossenes System von Ideen, vereinfachte Erklärungen komplexer Zusammenhänge, Prämissen, die von Fakten unabhängig sind, mangelnder Wille zur Selbstreflexion und zur Relativierung des eigenen Standpunkts, Gegnerschaft zu rationalem, kritischem Denken, starke In-Group-Out-Group-Dynamik, hohes Identifikationspotenzial für die, die sich der „richtigen“ Sache verschreiben: Nicht „Wahrheit“ durchherrscht viele Unikomplexe, sondern eine weltblinde Ideologie, eine handlungsweisende Wahrnehmungsweise, die sich gegen jede Erfahrung verpanzert.
Und anstatt, dass 10/7 ein Fanal gewesen wäre, um das Weltbild der wirklichen Welt anzupassen, scheinen viele sogenannte progressive Geister sich noch tiefer in ihrem theoretischen Weltimitationsgewölbe zu verbunkern als bislang. Der „globale Süden“ und die Palästinenser müssen das absolute Gute verkörpern, der „globale Norden“ und die Israelis sind der ewige Antagonist. Die kurze Offenbarung der moralischen Schwächen ihrer unterkomplexen Betrachtung der Welt hat anscheinend eine narzisstische Kränkung befördert, die die Abwehr der Wirklichkeit noch intensiviert und den Wunsch erzeugt, sie wieder in die Theorie einzusperren, aus der sie am 7. 10. zu entkommen drohte. So waren die Bomben der IDF ein beruhigender Balsam für die irritierte aktivistische Seele, die gewohnt ist, die Welt in Gut und Böse zu zerteilen. Die kognitiven Dissonanzen, die die Nachricht von enthaupteten israelischen Babys womöglich bei manchen notorischen Israelhassern bewirkt hatte, waren augenblicklich aufgelöst. Endlich schien die empirische Welt mit der ideologischen Weltsicht versöhnt. Gut war wieder gut, und Böse wieder böse.
Zwar ist die postkoloniale Betrachtung der Welt nicht immer und notwendig antisemitisch. Sie hat aber strukturelle Affinitäten zur Ideologie des Antisemitismus und ist ferner hervorragend geeignet, antisemitische Ressentiments in ein pseudokritisches Raster einzutragen, sie mit einem guten Gewissen zu versehen, und als notwendige Haltung erscheinen zu lassen. Denn postkoloniale Theoretiker:innen predigen eben eine radikale Teilung zwischen dem oppressiven Okzident hier und dem unterdrückten globalen Süden dort. Die lange Verfolgungsgeschichte der Juden und ihre nach wie vor leidvolle Gegenwart haben in dieser an der „Colourline“ vollzogenen Grenzziehung keinen Platz. Antisemitismus wird, wenn überhaupt, bloß als eine Subform von Rassismus begriffen. Oder als eine Diskriminierung, die bloß während der Zeit des NS-Regimes bestand, und deren Opfer heute nicht mehr die inzwischen „weißen“ Juden, sondern die „orientalisierten“ Araber seien, wie Edward Said sich ausgedrückt hat.
Israel gilt gegen die historischen Fakten als siedlerkolonialer und „künstlicher“ Staat – als wäre nicht jeder Staat ein künstliches Gebilde. Auch das unzweideutig antisemitische Motiv vom „wurzellosen Bösen“, das die Volkskultur zersetzt, prägt viele postkoloniale Debatten. Die von überall her geflüchteten Juden – ob äthiopisch, aschkenasisch oder misrachisch – werden als „weiße“ Kolonialherren betrachtet, die eine einst harmonische Gemeinschaft fundamental aus dem Gleichgewicht brachten.
Okzidentalismus und Antisemitismus sind dabei ideengeschichtlich verknüpft. Antisemitismus ist nicht nur eine „leidenschaftliche Weltanschauung“, wie Jean-Paul Sartre meinte. Er stellt auch stets eine Kulturtechnik dar, mit deren Hilfe die zentralen Widersprüche der Moderne ohne geistigen Aufwand erklärlich erscheinen – „die Juden“ als angeblich böse Erzeuger eigentlich systemisch bedingter Probleme werden projektiv personalisiert. So ist der Übergang von einer Lesart, die Israel als kapitalistisch-imperialistisches Kolonialprojekt verfemt, hin zu einem Verschwörungsglauben, der hinter Imperialismus und Kapitalismus grundsätzlich „den Juden“ vermutet, in Theorie und Praxis durchaus fließend. Der Antimodernismus des Postkolonialismus – mit Israel als Sinnbild der Gemeinschaftserosion – ähnelt rechten wie islamistischen Visionen: Eine romantisierte Urtümlichkeit soll von den modernen Entstellungen befreit werden, der Weg führt zurück in die „authentische Gemeinschaft“, in eine Zeit, da diese angeblich im Einklang mit sich war. Das zersetzende Prinzip, ja das Medium der Moderne, ist in der ein oder anderen Weise immer der Jude. Von diesem gilt es nun die krank gewordene Welt zu erlösen, Antisemitismus zielt, anders als Rassismus, in letzter Konsequenz auf die Vernichtung des „Bösen“.
Erlösungsantizionismus
In der Agitation sogenannter propalästinensischer Protestcamps, die an zahlreichen Unis ins Kraut geschossen sind, gerinnt der Kampf gegen den bösen Zionismus nun häufig zum Kampf für die Befreiung der Menschheit. Die zum Fetisch avancierten Palästinenser gelten hier als Avantgarde im Kampf für das Gute. Ein regionaler Konflikt zwischen Bevölkerungsgruppen bekommt eine heilsgeschichtliche Bedeutung. Auf den erhofften Sieg der Palästinenser gegen die israelische Besatzungsmacht wird der Wahnglaube einer Befreiung der Menschheit von einem vermeintlich global agierenden Zionismus projiziert. „Palestine will set us free“ ist an den Unis eine gängige Parole. Der Weltverschwörungsmythos klingt hier unverhohlen an, erlösungsantisemischer Wahn wird als Sorge um die Welt ausgegeben. Bei der dekolonialen Szene-Größe Ramón Grosfoguel, der in Berkeley lehrte, klingt das dann so: „Der palästinensische Sieg wird die Menschheit auf eine höhere Bewusstseinsstufe führen. Lasst uns in Palästina für Gerechtigkeit sorgen, um die Menschheit vor den Pharaos unserer Zeit zu retten.“ Wie der Politikwissenschaftler Tim Stosberg gezeigt hat, koppelt Grosfoguel die Befreiung der Menschheit und des eigenen Selbst an die Aufhebung Israels, die Vernichtung der „Pharaos unserer Zeit“, ja der „jüdisch-siedlerkolonialen Eliten.“ Und Grosfoguel ist bei weitem nicht der einzige postkolonial geprägte Denker der Gegenwart, der antisemitische Tropen bemüht und die Welt vom Zionismus zu befreien erhofft.
Wie im klassisch-völkischen Antisemitismus verzahnt sich die vermeintliche Sorge um die Welt mit der Hoffnung auf das Ende des „kollektiven Juden“, als welcher der jüdische Staat nun erscheint. Der Antisemitismus gab stets zu Protokoll, sich sehr um das Wohl dieser Welt zu bemühen, die man vom sie angeblich knechtenden Übel, der Judenheit, zu befreien gedachte. Auch völkische oder islamistische Kräfte meinen dieses Wohl der Welt zu verfolgen. Die wohlfeile Phrase von der „Sorge um die Welt“ erweist sich als hohler Containerbegriff, in den man alles mögliche hineinfüllen kann, selbst pathisch-projektive Vernichtungsintentionen.
Die „Israelfrage“ als Hauptwiderspruch?
Hier soll freilich nicht gesagt werden, dass jeder Student, der gegen den Krieg im Nahen Osten protestiert, antisemitische Motive verfolgt (oder auch bloß entsprechende Motive bedient). Bei einer ambiguitätstoleranten Betrachtung, die auf dämonisierende, delegitimierende und de-realisierende Momente verzichtet, ferner keine doppelten Standards bemüht, und sich ohne radikale Obsessionen vollzieht, ist Kritik an diesem Krieg nicht nur erlaubt, sondern geboten.
Doch für große Teile der heutigen Linken, die globalpolitisch in der Defensive ist, gerät die Israelfrage längst zum Hauptwiderspruch, manche Gruppen sind seit dem 7. Oktober zu monothematischen Bewegungen verkommen. In Zeiten multipler Krisenphänomene, die sich kaum adäquat in den (Be)Griff kriegen lassen, ist die „Israelkritik“ ein bewährtes Mittel, um politische Affekte zu kanalisieren. Es herrscht der Wille zur „Personalisierung“, also die Projektion komplexer struktureller Probleme auf den „Juden unter den Staaten“, wie Léon Poliakov einst formulierte.
Der postmoderne Academia-Aktivismus hat hier den Antiimperialismus beerbt, der den Verlust der Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt einst mit einer Fetischisierung nationaler Befreiungsbewegungen im Trikont kompensierte – unabhängig von deren eigener Agenda – und der seinerseits ein zweigeteiltes Weltbild entwarf, in dem der Westen und Amerika die Feinde markierten, mit Israel als Teufel in staatlicher Gestalt. Auch hier war der „ehrbare Antisemitismus“, den Jean Améry als erster erkannte, eine wichtige Zutat der ideologischen Rezeptur.
Dabei ist es zuletzt auch nicht weiter erstaunlich, dass manche Juden in die Dämonisierung des jüdischen Staates miteingestimmt sind. Sicher spielt hier in einigen Fällen auch die Externalisierung des Hasses eine Rolle, den man lebenslang gezwungen war, zu internalisieren. Der erfahrene Hass wird so gleichsam projiziert, ein „gutes“ Judentum, von einem „bösen“ befreit, um von diesem Hass nicht mehr mitgemeint zu sein.
Auch wird im dekonstruktivistischen Philosemitismus, dem sich manche linke Juden in den USA verschreiben, das Judentum gleichsam „entjudaisiert“. Der „authentische Jude“ wird zum Signifikanten abstrakter sozialer Gerechtigkeit erkoren, zum subvertierenden Gegenprinzip toxischer Identitätskonstruktionen. In ihrer Überhöhung des Diasporismus erklärt Judith Butler das ständige Leiden und das Differente zur Mehrheitsgesellschaft zum jüdischen Dasein par excellence. Jene, die es nicht als eine Auszeichnung begreifen, ein wandelnder Gegensatz zum Mainstream zu sein, und in einer jüdischen Mehrheitsgesellschaft fern von Antisemitismus leben wollen, sind laut Butler auf den Abweg geraten. Der aufrecht gehende, starke Israeli, der aus Auschwitz eben gerade nicht den Schluss gezogen hat, sein Heil im Postnationalen zu finden, sondern meint, dass die Existenz und Zukunft der Juden nur im Nationalstaat gesichert werden können, der also seinen Anspruch auf das Überleben, oder mehr noch auf ein Leben ohne Diskriminierung, höher gewichtet als abstrakte Moral, und sich weigert ein Sinnbild des Opfers zu sein, stört die eigene Selbstkonstruktion und wird radikal dämonisiert. Bei Butler und anderen Dekonstruktivisten stellt dabei – wie der Philosoph Bruno Chaouat zeigt – eine postmoderne säkulare Variante christlich-paulinischen Antijudaismus‘ eine wiederkehrende Denkfigur dar.
„Zionismus“ gilt nun, wie seinerzeit das Judentum, als „störrisches“ und unzeitgemäßes Relikt, das den wahren Universalismus verhindert. Die Spaltung zwischen fleischlichem und geistigem Juden, zwischen der vermeintlich „verstockten“ Synagoge und einer universalistischen Kirche ist im postmodernen „Jewsplitting“ vielfach präsent.
Da das ursprünglich herrschaftskritisch intendierte Projekt einer Dekonstruktion hegemonialer Wahrheits-, Wissens- und Identitätsregime mit universalem Anspruch, wie es noch bei Jacques Derrida vorkommt, bei dessen Nachfolgern bald in das Projekt einer Rekonstruktion zumindest der als subaltern vermeinten Identitäten und „Wahrheiten“ umschlug, deren vermeintlich authentischen Gruppencharakter man gegen die Zurichtungen des westlichen Wissensregimes verteidigen möchte, mischten sich antijudaistische Motive auch bald wieder mit antisemitischen Motiven. Der antijudaistisch-antisemitische Ideologiekomplex ist somit antipartikularistisch und antiuniversalistisch zugleich. In einer partikularistischen oder nationalistischen Perspektive gilt „der Jude“ als Feind der Nationen und anderer vermeintlich urtümlicher Gemeinschaften sowie als personalisierter Verursacher der unbegriffenen und als Zumutung empfundenen Widersprüche der Moderne – in einer universalistischen oder internationalistischen Perspektive aber gilt er (im Rahmen einer säkularisierten Variante des paulinisch-substitutionstheologischen Antijudaismus) als der letzte „störrische“ Vertreter einer „chimärischen Nationalität“.
Dass es sich als Ikone des Queer-Feminismus und Stichwortgeberin postkolonialer Antizionisten sehr viel angenehmer leidet, denn als Jude in Paris oder London; ja, dass Juden eine jüdische Nation brauchen könnten, ist Judith Butler nicht begreiflich zu machen. Auch Butler betrachtet den Nahostkonflikt, von dem sie anscheinend nicht sehr viel weiß, durch die Brille ihrer eigenen Befindlichkeiten. Der Philosemitismus der Dekonstruktion hat dabei jedenfalls ein großes Potenzial, in antijudaistisch-antisemitische Israelbilder zurückzuschlagen.
Doch auch abseits sozialpsychologischer und philosophiegeschichtlicher Erwägungen ist es ein zumindestsoziologischer Fakt, dass Juden, die am „Progressiven“ teilhaben wollen, meist gezwungen sind, Israel offen zu verdammen (und nicht nur den Rechts-Zionismus zu verurteilen, was sehr viele Juden ja sowieso tun). Denn die Distanzierung von „Bibi“ Netanjahu, seiner rechts-nationalreligiösen Regierung und deren Weise in Gaza den Krieg zu bestreiten, reicht in den besagten Szenen nicht aus. Hier gilt es, Israel vollends zu entsagen, sonst muss man zumindest mit verbaler Gewalt und dem Ausschluss aus der wohligen Gemeinschaft kalkulieren. Wer mitmachen will, muss den „Teufel“ exorzieren.
Heinrich Heine nannte die Taufe einmal das „Entre Billet“ zur europäischen Kultur. Der Antizionismus ist das „Entre Billet“ zum postkolonial geprägten Links-Aktivismus. Die Konvertiten, von denen sich manche zeitlebens gezwungen sahen, ihr Christentum durch Ablehnung „der Juden“ zu bezeugen, blieben von der Feindschaft gegen diese nicht verschont. Dass die Ablehnung des jüdischen Staates genügt, um in einer gojischen Mehrheitsgesellschaft auch in Zukunft dem Ressentiment zu entgehen, ist durchaus möglich, aber keineswegs gewiss.
Dabei ist es kein Zufall, dass die üblichen Vertreter eines jüdischen Antiisraelismus nicht selten in den USA zu finden sind. So gibt es dort zwar ebenfalls einen brachialen und unerbittlichen Antisemitismus, aber auch eine so große jüdische Gemeinschaft, dass es möglich ist, selbstbewusst als Jude zu leben, was auch immer das dann eigentlich heißt. Juden in Europa können das kaum, und die Lage hat sich seit 10/7 noch einmal verschärft – sie haben ein jüdisches Israel nötig, das Paradoxon der ethnischen Demokratie, als Schutzhafen vor den Pogromen von gestern, als Schutzhafen vor den Pogromen von morgen. So können sich linke Juden in den USA womöglich mit weniger Schmerzen im Magen einem antizionistischen Denken verschreiben, dem moralisch perfekten Diasporatum, und als Teil einer weltweiten „Linken“ begreifen. Dass auch Juden antisemitische Gedanken und Gefühle hegen können und auch wenn sie dies nicht tun (also keine diesbezüglichen Intentionen haben), Sätze mit antisemitischem Sinngehalt formulieren können, sowie solche, die eine antisemitische Konsequenz haben, ist eine Binse. Doch ganz unabhängig davon, dass bei manch jüdischem Antizionisten auch antisemitische Motive nahe liegen – in jedem Fall sind jüdische Antizionisten die „nützlichen Idioten“ des Antisemitismus, der sich mit Verweis auf seine jüdischen Zeugen vom Antisemitismusvorwurf freizusprechen sucht.
Auch ist es nachvollziehbar, dass die Faschisierungstendenzen in den USA und in anderen Ländern Wünsche nach einem Kollektiv evozieren, das den guten und gerechten Kontrapunkt darstellt, ein Antidot zu den völkischen Kräften. Der Gegensatz greift aber leider zu kurz.
Dass Donald Trump nun den Antisemitismus für staatsrepressive Politiken missbraucht, um möglichst viele Widersacher mundtot zu machen, macht diese nicht in toto automatisch zu den Guten, zumal es wohl nicht wenigen von ihnen in den Kram passt, dass mit Trump nun die Antisemitismuskritik als vermeintlich rechte Machenschaft diskreditiert wird.
Dass Trump selbst nicht um den Antisemitismus besorgt ist, zeigt sich indes auch an der Qatar-Politik des neuen alten US-Präsidenten. So bekam dieser von dem mit den Muslimbrüdern assoziierten al-Thani-Clan – der Herrscherfamilie des Golfemirats und weltweit wichtigem Terrorfinanzierer – nicht nur kürzlich eine Boeing als „Geschenk“. Qatar, das eine langfristig islamistische Strategie verfolgt, ist auch der größte ausländische Finanzier des US-amerikanischen Bildungssystems und hat nicht zuletzt riesige Summen in den Aufbau von Studienprogrammen gepumpt, die ein dezidiert antiisraelisches Framing des Konflikts im Nahen Osten durchzusetzen helfen. Auch hier zeigt sich, dass manche Uni in den USA nicht als objektive Stätte der Wahrheit gelten kann. Seit dem Jahr 2012 hat das Golfemirat laut einer Recherche des Middle East Forum (MEF) ganze 6,25 Milliarden Dollar in US-amerikanische Unis investiert. Die Alimentierung des Unibetriebs ist dabei kontinuierlich gestiegen. Hieran wird Trump wohl rein gar nichts ändern, da er vom Geschäft mit Qatar profitiert. Womöglich ist es dabei ja lediglich Zufall, dass an jenen US-Universitäten, die Gelder aus Qatar und anderen autokratischen Regimen des Nahen Ostens erhalten haben, im Schnitt dreimal so viele antisemitische Vorfälle zu verzeichnen waren wie an Einrichtungen, die keine derartigen Zuwendungen angenommen haben.
Für eine wirklich emanzipatorische Linke wäre es nicht nur geboten, die Irrungen von Antiimperialismus und Postkolonialismus aufzuarbeiten und den blinden Fleck des Antisemitismus zu erhellen. Sie würde sich auch kritisch zu der Tatsache verhalten, dass die, die islamistischen Terror finanzieren, auch Teile ihrer Bildung alimentieren – wofür allerdings die Voraussetzung wäre, die islamistische Ideologie und ihren modernen Antimodernismus so zu kritisieren wie den völkischen Faschismus, wofür viele „Linke“ leider keineswegs bereit sind.
Eine Linke, die den Antisemitismus vergisst, suspendiert sich selbst als Befreiungsakteurin. Gewisse Teile der weltweiten Linken, und nicht zuletzt jene auf den westlichen Campus, haben sich geistig, moralisch und politisch verirrt; versagen als emanzipatorische Kraft, die es bräuchte, um der Faschisierung Einhalt zu gebieten.