Der Tagesspiegel, 05.12.2020
Ist die „Cancel Culture“ ein zahnloser Papiertiger – oder bedroht sie tatsächlich die Meinungsfreiheit? Die Fronten der Debatte scheinen hoffnungslos verhärtet. Auf der einen Seite stehen die, die meinen, dass sich im Kultur-, Medien- und Wissenschaftsbetrieb eine immer rigidere Diskurshygiene breit mache. Wer sich der moralinsauren Hypersensibilität der neuen Kultur-Hegemonen nicht anpasse – so der Tenor dieser Erzählung – werde aus den öffentlichen Sprechräumen verbannt.
Die Gegenseite erklärt, dass es sich bei der medialen Rezeption der „Cancel Culture“ um eine bloße Gespensterdebatte handele. Jene, die lange den Diskurs dominierten – meist alte, weiße und männliche Akteure – trauerten den guten alten Zeiten hinterher, in denen ihnen kaum widersprochen worden sei. Demnach ist „Cancel Culture“ ein populistischer Kampfbegriff, mit dem man Kritik als Zensur schmähen kann.
Was ist dran an der Debatte? Lässt sich herausfinden, welches Lager recht hat? Problematisch an feuilletonistischen Modebegriffen ist, dass sie oft exzessiv verwendet werden und meist keinen klaren Phänomenbereich umreißen. Wenn es eine „Cancel Culture“ geben sollte – was kann damit eigentlich gemeint sein?
„Im Gegensatz zu staatlicher oder kirchlicher Bevormundung bezeichnet Cancel Culture die Selbstregulierung eines bestimmten Milieus, etwa im Kultur- oder Universitätsbetrieb“, sagt der Autor und Dramaturg Bernd Stegemann, Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Demnach ist das, was unter dem Begriff der „Cancel Culture“ diskutiert wird, kein Eingriff von oben, sondern von unten. Ein bestimmtes soziales Feld entwickelt eine Art Verhaltensgrammatik, bildet also implizite Sprechregeln aus.
Wenn es aber kein Zentralkomitee gibt, dass das Feld des Sagbaren unter Strafandrohung reguliert, ist es dann nicht blanker Unsinn, von einer „Gefahr für die Meinungsfreiheit“ zu sprechen, wie es die Kritiker der sogenannten „Cancel Culture“ tun?...