Der Tagesspiegel, 11.06.2021
Herr Honneth, am vergangenen Wochenende hat der rechtsextreme Landesverband der AfD in Sachsen-Anhalt gut ein Fünftel der Stimmen geholt, fast 40 Prozent haben gar nicht erst gewählt. Woher rührt diese Demokratieverdrossenheit?
Hier muss man die Lebensverhältnisse in Ostdeutschland in Rechnung stellen, das hat mit immensen Enttäuschungen über die Nachwehen der Widervereinigung zu tun. Mit der Verarmung und Verödung ganzer Regionen, der Abwanderung großer Bevölkerungsteile. Diese Enttäuschungen brechen sich Bahn.
Im Rahmen der „Benjamin Lectures“ sprechen Sie darüber, dass die Qualität der deliberativen Demokratie von einer fairen Arbeitsteilung abhängig ist. Inwiefern kann die symbolische und ökonomische Aufwertung zum Beispiel des Dienstleistungssektors die demokratische Mitbestimmung weiter Bevölkerungsteile verbessern?
Ich denke grundsätzlich darüber nach, wie Arbeitsverhältnisse gestaltet sein müssen, um eine Mitwirkung an der demokratischen Willensbildung zu befördern. Diese eigentlich selbstverständliche Frage wird viel zu selten gestellt. Es geht mir nicht nur darum, über prekäre Beschäftigung und unzureichende Bezahlung zu klagen. Auch die Art und Weise, wie viele Beschäftigungsfelder verfasst sind, ist ein Problem, zum Beispiel die strukturelle Eintönigkeit zahlreicher Tätigkeiten. Wie Arbeit organisiert, anerkannt und bezahlt wird, hat einen maßgeblichen Einfluss darauf, ob Menschen sich am demokratischen Prozess beteiligen oder nicht.
Sie sagen, die Wertigkeit von Tätigkeiten, die unsere Gesellschaft als Arbeit gelten lässt, ist vielfach sozial konstruiert. Muss die gesellschaftliche Rangordnung im Anschluss an Corona neu bemessen werden?
Wir täten gut daran, die Leistungsbewertungen, die in das offizielle Ansehen einer Tätigkeit einfließen, zu überprüfen. Natürlich sollten zum Beispiel erzieherische und pflegende Tätigkeiten nicht nur symbolisch anerkannt, sondern auch hinreichend vergütet werden. In jüngster Zeit konnte man sehen, das bestimmte Tätigkeiten ungleich wichtiger sind, als es sich im Lohn und im sozialen Status niederschlägt.
Sie monieren das Paradox, dass der Souverän für die Demokratie eigentlich keine Zeit hat, aus dem einfachen Grund, dass er arbeiten muss. Verschärft sich das Problem durch den Umstand, dass die meisten politischen Felder sich als unglaublich komplex erweisen? Und dass es zeitlich kaum zu schaffen ist, sich in mehreren Bereichen eine informierte Meinung zu bilden?
Auf jeden Fall. Es wäre allerdings schon sehr viel geholfen, wenn man sich bewusst machte, dass der Souverän nun einmal arbeitet. Es ist eine hartnäckige Fiktion, der Demos könnte in freier Tätigkeit aktiv werden. Viele der hart arbeitenden Menschen können ihr Recht, als demokratische Staatsbürger am Gemeinwesen zu partizipieren, kaum angemessen ausüben. Sich nach einem Tag im Callcenter oder an der Kasse noch politisch zu betätigen, oder überhaupt das dafür notwendige Wissen zu erwerben, ist kaum möglich. Zermürbende und eintönige Tätigkeiten machen es erwiesenermaßen besonders schwer, die Kraft für demokratische Beteiligung aufzubringen.
Und was wäre die Lösung? Das abzuschaffen, was der Kulturanthropologe David Graeber als „Bullshitjobs“ bezeichnet?
So leicht geht es natürlich nicht. Eine demokratische Politik der Arbeit hat verschiedene Hebel. Wir müssen uns wieder Gedanken um Alternativen zum Arbeitsmarkt und zum Konzept der Lohnarbeit machen. Das hat es alles schon gegeben, damit kann man wieder experimentieren – zum Beispiel könnte der Staat selbstverwaltete Kooperativen fördern. Das wäre ein Hebel. Das Zweite wäre eine Verbesserung der Lohnarbeit selbst. Zunächst müssten Rechte wiederhergestellt werden, die in den letzten 30 Jahren abgebaut wurden. Dann gäbe es die Möglichkeit, Tätigkeiten neu zu konzipieren. Wie kann man Arbeitsfelder so schneiden, dass sie interessanter, komplexer, und partizipativer sind. Warum kann jemand, der als Reinigungskraft tätig ist, nicht auch Gartenarbeit machen; jemand, der an der Kasse sitzt, nicht auch mit der Zusammensetzung des Sortiments betraut sein?
Das klingt nach der spätmodernen Variante der marxschen Hoffnung „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen und abends Viehzucht zu treiben“.
Ja, aber in einer realistischen Variante. Es geht mir um eine Mikropolitik der Arbeit, die diese humaner und demokratieförderlicher macht.
Denker der „Postdemokratie“ wie Colin Crouch machen die neoliberale Verfilzung von Wirtschaft und Politik dafür verantwortlich, dass demokratische Leidenschaften immer mehr ermatten. Da wird etwa ein Lieferkettengesetz, das für ethische und ökologische Mindeststandards sorgen soll, von Lobbyverbänden völlig entkernt. Wie toxisch ist das weitverbreitete Gefühl, am Ende doch nicht viel ändern zu können?
Ich glaube, das spielt eine sehr starke Rolle...