Tagesspiegel, 19.06.2024
Frau Achour, etwa 16 Prozent der unter 25-Jährigen haben bei der Europa-Wahl die AfD gewählt, der viel beklagte Rechtsruck geht auch durch die Jugend. Nach solchen Ergebnissen wird oft mehr politische Bildung gefordert. Was kann diese leisten?
Als politische Bildnerin finde ich es zunächst etwas oberlehrerhaft, dass wir uns über die falsche Wahl der Jugend echauffieren, obwohl wir Erwachsenen und die Gesellschaft im Ganzen es nicht besser gemacht haben. Dennoch: In der empirischen Sozialforschung stellen wir seit einigen Jahren tatsächlich eine Trendwende fest. Über Jahrzehnte haben junge Menschen tendenziell progressiv gewählt, nun aber verschiebt sich etwas. Das liegt natürlich nicht nur, aber auch an einem weitreichenden politischen Desinteresse an Demokratiebildung. Politische Bildung in der Schule ist essenziell für die Demokratie. Aber sie funktioniert nicht als Feuerwehr, vielmehr sind Mündigkeitsbildung und Aufklärung demokratischer Brandschutz.
Nach dem Pisa-Schock Anfang der 2000er-Jahre galten lange Zeit eher solche Fächer als wichtig, die sich konkret am Arbeitsmarkt verwerten ließen, politische Bildung wurde vielfach vernachlässigt. Wie sieht es heute aus?
Politische Bildung an Schulen war und ist in vielen Bundesländern stark marginalisiert, die Nachwirkungen davon sind bis heute spürbar. Nicht immer kann sie ihre eigentliche Zielsetzung verfolgen: Aus Kindern und Jugendlichen mündige Menschen machen, sie zu selbstständigem Denken anzuregen, zur kritischen Gesellschaftsanalyse, zu konstruktivem Widerspruch. Besonders in Zeiten von Hass und Polarisierung müssen auch Perspektivenübernahme, Empathie und Ambiguitätstoleranz gefördert werden. Schließlich werden die Ziele des Faches konterkariert, wenn es mit Wirtschaft oder Finanzbildung gekoppelt wird.
Hat hier nicht längst ein bildungspolitisches Umdenken stattgefunden?
Teilweise ja, aber wir beobachten einen großen Gap zwischen politischen Sonntagsreden, in denen die Bedeutsamkeit politischer Bildung betont wird, und der tatsächlichen Umsetzung in den Schulen. In Bundesländern, wo es so gut wie keine politische Bildung in den Schulen gab, existieren nun bescheidene Angebote in höheren Klassen, da ist die politische Sozialisation aber oft schon weit fortgeschritten. Es fehlen auch adäquate Reaktionen und frühzeitige Angebote auf die digitale Indoktrinierung von Schüler:innen durch rechte Kräfte in den sozialen Medien.
Die AfD und ihre Vorfeldorganisationen sind stark in digitalen Netzwerken vertreten. Gleichzeitig versuchen rechtsextreme Akteure von Wehrsportgruppen bis zur AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung besonders im Osten gezielt junge Menschen politisch zu verhetzen. Besetzen die Rechtsextremisten die Leerstellen demokratisch-politischer Bildung?
Definitiv. Wenn die AfD auf Tik Tok dreimal so oft vertreten ist wie alle demokratischen Parteien zusammen, legt das nahe, dass sie einen starken Einfluss auf politische Sozialisationsprozesse haben. Rechte Gruppen können ihre Botschaften dort stundenlang ins Bewusstsein junger Menschen senden. Mit einer Stunde Politikunterricht kommt man dagegen nicht an. Und auch mit Blick auf den analogen Raum gilt, dass rechtsextreme Kräfte sehr professionell genau die Lücken gefüllt haben, die sich durch die Kürzungen im Bereich der politischen Bildung in Schulen, aber vor allem auch auf der Ebene von Jugendbildung und lokalen Initiativen aufgetan haben. Dort, wo an politischer Bildung gespart wurde, haben antidemokratische Gruppen leichtes Spiel. Sie investieren viel in die Beziehungsarbeit im vorpolitischen Raum.
Vor einigen Jahren hat die AfD eine digitale Denunziationsplattform eingerichtet, auf der Lehrkräfte bezichtigt werden konnten, gegen eine vermeintliche politische Neutralität zu verstoßen. Was für Mittel verwendet der autoritäre Rechtspopulismus sonst noch, um der Demokratiebildung aktiv zu schaden?
Aktuell arbeiten sie viel mit parlamentarischen Anfragen. Schulen trauen sich teilweise nicht mehr, bestimmte Träger oder politische Stiftungen einzuladen, weil sonst sofort Anfragen einlaufen, ob die Schule nicht gegen das Neutralitätsgebot verstoßen würde. Und natürlich gibt es Hetze und Einschüchterungen. Als Schüler:innen der Fichtenberg-Oberschule in Steglitz zu der Demo „Schule gegen rechts - 1933 soll im Geschichtsbuch bleiben“ aufgerufen haben, gab es zum Beispiel Beleidigungen und Drohungen gegen die Schule und den Schulleiter, der die Schüler:innen für die Demo freigestellt hatte. Hier haben AfD-Abgeordnete sogar Schüler:innen, die an der Demo teilgenommen haben, videografiert und online gestellt.
In einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem sprechenden Titel „Wer hat, dem wird gegeben“ kamen Sie und Ihre Kollegin Susanne Wagner 2019 zu dem Schluss, dass der Politikunterricht in Sekundarschulen schlechter ist als an Gymnasien und vor allem diejenigen eine gute Demokratiebildung genießen, die schon im Elternhaus politische Bildung erhalten. Hat sich diese Klassen-Kluft inzwischen verringert?
Meiner Wahrnehmung nach nicht. Bei der Aufstellung des Faches im Schulformvergleich hat sich wenig bis nichts geändert, dabei müsste gerade in den Sekundarschulen ganz viel passieren, wissen wir doch, dass Zustimmungswerte zur Demokratie im Zusammenhang mit dem Bildungshintergrund oder besser mit dem Zugang zu Bildung stehen.
Wie sieht eine zeitgemäße politische Bildung eigentlich aus? Wer sollte wem was vermitteln?
Politische Bildung muss auf die Sorgen und Ängste der Kinder und Jugendlichen reagieren und die Themen adressieren, die sie konkret bewegen. Sie muss die jungen Menschen in ihrem vor allem digitalen Rezeptionsverhalten ernst nehmen und da abholen, wo sie stehen. Polemisch ausgedrückt: Schmeißt die Schulbücher weg! Die Aufgabe der Schule ist es heute, sich intensiv mit Politikvermittlung über Social Media zu befassen. Da geht es vor allem auch um Critical Digital Literacy: Schüler:innen sollten zum Beispiel verstehen lernen, wie sie gute von schlechten Quellen unterscheiden, wie Algorithmen wirken. Hier muss sich Unterricht stark ändern, nicht nur, aber auch in der politischen Bildung.
Mit dem vom Berliner Senat geförderten Projekt „Demos leben“ setzen Sie sich dafür ein, Demokratiebildung als Querschnittsaufgabe im Lehramtsstudium zu verankern. Müssen auch Sport- und Physiklehrkräfte in der Lage sein, „demokratiebildend“ zu wirken?
Ja, jederzeit, wir brauchen eine aktive demokratische Schulkultur! Alle Lehrkräfte müssen in der Lage sein, demokratiefeindliche, rassistische, antisemitische Symbole zu erkennen und hierauf pädagogisch adäquat zu reagieren – übrigens auch im Lehrkräftezimmer. Bei problematischen Schüleräußerungen heißt dies etwa, um Erklärungen zu bitten, kritisch nachzufragen, in der Sache klar zu sein, doch nicht zu verurteilen. Schüler:innen müssen lernen, dass Kontroversen und Meinungspluralismus erwünscht und Teil der demokratischen Kultur sind, dass aber Demokratie- und Menschenfeindlichkeit keine legitimen Meinungen sind, sondern als solche markiert werden.
Wie sind denn die Lehrkräfte in Deutschland in Sachen politischer Bildung heute aufgestellt?
Analog zur Marginalisierung der politischen Bildung in der Schule, wurde diese lange auch in der Lehrer:innenausbildung vernachlässigt. In einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wurden Lehrkräfte gefragt, wie kompetent sie sich in dieser Hinsicht fühlen. Gerade die jüngeren Lehrkräfte, deren Ausbildung in die Zeit seit der Schwächung der Demokratiebildung auch an Universitäten fällt, haben oft zurückgemeldet, dass sie sich für die Demokratiebildung nicht hinreichend ausgebildet fühlen.
Gibt es denn überhaupt einen messbaren Zusammenhang zwischen Umfang und Güte der Demokratiebildung in Schulen und den Haltungen der Schülerschaft zur Demokratie?
Ja, Studien zeigen etwa, dass Schüler:innen, die mehr politische Bildung genießen oder an ihrer Schule neben dem regulären Unterricht hin und wieder demokratiebildende Angebote nutzen, sehr viel eindeutiger Demokratie- und Menschenfeindlichkeit ablehnen als andere, die das nicht tun.
Aber könnte es nicht sein, dass nur die ohnehin schon demokratisch Eingestellten solche Angebote auch wirklich wahrnehmen, die Personen also nicht demokratischer sind, weil sie die Angebote nutzen, sondern sie nutzen, weil sie demokratischer sind?
Diese Richtung des Zusammenhangs mag es vereinzelt auch geben, wir sehen in der Gesamtschau die Effekte aber auch hinsichtlich demokratiebildender Angebote, die von der ganzen Klasse wahrgenommen wurden.
Der Philosoph Theodor W. Adorno hat in Reaktion auf die Shoah erklärt, das Ziel jeder Pädagogik müsse sein, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei“. Kann eine gute politische Bildung Menschen wirklich einen demokratischen Schutzfilm auftragen, der sie gegen Hass und autoritäre Versuchungen wappnet?
Ja, auf jeden Fall. Das lässt sich empirisch sehr gut zeigen. Schüler:innen, die mehr politische Bildung erfahren, aber auch Erwachsene, die beispielsweise in demokratischeren Strukturen mit Mitbestimmung und Solidarität arbeiten, lehnen Demokratie- und Menschenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus eindeutiger ab.
Die Zustimmungswerte zur Demokratie mögen in höheren Bildungsschichten ausgeprägter sein als in weniger gebildeten Milieus. Trotzdem neigen auch hochgebildete Personen zu Rassismus und Antisemitismus. Zudem scheinen Menschen in Krisenzeiten immer wieder dem Kontrollversprechen des Autoritarismus auf den Leim zu gehen. Wo liegen die Grenzen der Aufklärung?
Es gibt keine Grenzen, sondern nur ein zu Wenig an politischer Bildung im weitesten Sinne. Aufklärung, die Förderung von Mündigkeit und Kritikfähigkeit, das Ermöglichen von Teilhabe und politischer Selbstwirksamkeit sind unsere wichtigsten Instrumente gegen die Entgrenzung des Rechtsextremismus in intellektuelle Bereiche. Gleichwohl ist die Politische Bildung wie schon gesagt keine Feuerwehr, die mit Zwei-Stunden-Workshops gesellschaftliche Brände löschen könnte: So mache ich aus einem Nazi keinen Demokraten mehr.