Süddeutsche Zeitung, 12.8.2013
Die Anekdote ist ein polemisches Genre. Eine Erzählform, mit der zuweilen eine bestimmte Lesart von Ereignissen fixiert, ein Gemeinplatz übermittelt oder das Profil eines Individuums konturiert werden soll und die deshalb nicht unbedingt mit historisch Verbürgtem operiert. Die Anekdote orientiert sich am Möglichen: Eine eigentlich vielleicht banale Geschichte darf zwecks Lancierung einer handgerechten pädagogischen „Wahrheit“ schon mal dramaturgisch aufgemotzt werden. Wichtig ist nicht, was war. Es zählt vor allem die Suggestivkraft der Pointe.
Das Buch „Heureka! Philosophische Streifzüge im Licht von Anekdoten“ des emeritierten Philosophieprofessors Wolfgang Röd, Herausgeber der bei C.H. Beck erscheinenden vierzehnbändigen Geschichte der Philosophie, verfährt nach dem Grundsatz, dass das Wahre und das Gute im Hinblick auf die Anekdote einmal nicht zusammenfallen; für letztere zähle vielmehr, dass sie „gut erfunden ist“, und sei dem so, dann „ist sie wahr in übertragendem Sinn.“ Der Wahrheitsgehalt einer (philosophischen) Anekdote bemisst sich also im Hinblick auf ihren epistemischen Mehrwert oder besser: anhand ihres Potentials, eine Erkenntnis zu vermitteln. Über launige Legenden, so die Überlegung des Autors, lassen sich vielleicht gerade die zentralen Aspekte diverser Philosophien beleuchten. Zumeist verwendet Röd die Anekdote denn auch als Aufhänger, um zum Beispiel die Wege und Irrwege eines Denkers nachzuzeichnen, mit hartnäckigen, die philosophische Zunft im Ganzen betreffenden Klischees aufzuräumen oder um erkenntnistheoretische und moralphilosophische Fragen zu diskutieren.
Konkret sieht das so aus, dass Röd mit der Heureka-Anekdote – die davon handelt, wie Archimedes in der Badewanne vom Blitz der Erleuchtung getroffen wird – gerade jene Interpretationen kritisiert, die Erkenntnis nicht als Ergebnis jahrelanger Forschung, sondern als plötzliche Eingebung beschreiben. An anderer Stelle wird mit der Anekdote von Heideggers Frau – die, als ihr Mann im Auditorium angeblich gegen einen Lärmpegel ansprechen musste, gemahnt haben soll: „Ich bitte um Ruhe, das Sein spricht“ – die Auffassung vorgestellt, nach welcher sich in philosophischen Konzeptionen das Sein selbst oder der Weltgeist manifestiert. So anschaulich wie hier wurde einem die hegelsche Selbstbewegung des Begriffs auf einer halben Seite nur selten erläutert. In weiteren Kapiteln erörtert Röd zum Beispiel mit Sokrates‘ vermeintlich letzten Worten nach dem Schierlingsbecher – „Wir schulden dem Asklepios einen Hahn“ – philosophische Deutungen des Todes oder fragt mit Nietzsches Lou-Andreas-Salomé-Debakel nach dem in der Philosophiegeschichte häufig nicht unproblematischen Geschlechterverhältnis.
Zwar führen nicht alle der 31 im Buch vorgestellten Anekdoten gleichermaßen elegant in die im Anschluss vorgestellten Themengebiete ein. Auch finden manche Darstellungen erst nach mehreren Umwegen zu ihrem anekdotischen Aufhänger zurück. Das stört aber nur unwesentlich, denn Röd ist –ohne bahnbrechend Neues zu Tage fördern zu wollen – argumentativ durchweg auf der Höhe, diskutiert fast ohne Fachvokabular zentrale philosophische Topoi und unterhält durch historische Details, in denen die Gedankengänge plastischer hervortreten und die Form der Anekdote mehr ist als dekorative Rhetorik.