Süddeutsche Zeitung, 25.2.2014
Als der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas in seinem ersten Hauptwerk „Totalité et infini“ das abendländische Denken mit dem Topos des ganz Anderen konfrontierte, mit dem „unsagbaren Gott“, den er als ethischen Appell ins Antlitz des Nächsten hineinlas, war es Jacques Derrida, der, dabei das Anliegen Levinas‘ unterstützend, vor allem dessen Sprache mit einer ausführlichen Kritik bedachte. Denn eine Philosophie, die jenen den Begriff zersetzenden Augen-Blick der Ethik erfahrbar machen wolle, dürfe sich ihrerseits nicht mehr begrifflich, nicht mehr ontologisch ausdrücken.
Doch wie findet man eine Sprache, die dem Maßlosen, dem Unsagbaren angemessen ist?
Der ungarische Literaturwissenschaftler und Essayist László F. Földényi – Autor von Werken mit so herrlichen Titeln wie „Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus“ – hat nun einen Text veröffentlicht, der mit dem Anspruch aufwartet, das Gotteserlebnis höchstselbst, das sprichwörtlich Außer-Ordentliche sprachlich einzufangen. In „Starke Augenblicke. Eine Physiognomie der Mystik“ wählt Földényi die Gattung des Essays, in der er, dabei „seinen eigenen Gegenstand erleidend“, einen „einzigen feuerballartigen Augenblick zur Zeit hin ausdehnen“ könne. Tatsächlich legt er, wie der späte Levinas, eher Spuren, als dass er seinen Gegenstand systematisch behandelt; das religiöse Erlebnis dürfe ja nicht zu etwas Sachlichem veröden, vielmehr müsse die Aufgabe darin bestehen, „das die Gedanken umgebende Undenkbare, das jenseits der Worte verborgene Unsagbare fühlbar werden zu lassen.“
Um allen Missverständnissen vorzubeugen, erklärt Földényi – wie Levinas, der seinerseits den Vorwurf ausräumen musste, seine Philosophie sei bloß der Lack auf einer genuin religiösen Karosserie – schon in der Einleitung seinen theologischen Atheismus. Er beschränkt „das Göttliche“ jedoch nicht auf ein zwischenmenschliches Ereignis, sondern deutet es als den hochambivalenten, mystischen Moment der eigenen „Entäußerung“, als jenen „starken Augenblick“, in dem man dem Chaos, dem Nichts begegnet, „das sich ins Sein hinein stülpt“. Das Gotteserlebnis – das er gegen den Gottesglauben der etablierten Religionen profiliert, die ihrem eigenen mystischen Erbe in der Regel mit höchster Skepsis begegnen würden – beschreibt Földényi als die selbstauflösende Begegnung mit dem eigenen Grund, in der man sich, so die Pointe der Mystik, letztlich näher komme als in den selbstkontrollierten Praktiken des alltäglichen Lebens.
In sieben Essays nähert sich der Autor von verschiedenen mythologischen Spekulationen her und unter Zuhilfenahme namhafter Mystiker von Plotin bis Bataille eben jenem Paradox, nach welchem der Mensch gerade dann mit sich identisch wird, wenn er sich verliert, in Momenten höchster Lust und tiefsten Leids, in Verzückung und Wahnsinn. Földényi verstreut in seiner Abhandlung diverse metaphorische Splitter, gleichsam als bildliche Entsprechungen für jene strudelnden Momente, in denen man dem Grauen und der Inbrunst selbst, dem Maßlosen und Unaussprechlichen begegne. Da wird man mit dem lebenspendenden und zugleich versengenden „Blitz des Zeus“ konfrontiert, mit dem Mythos vom Lichtgott Apoll, der ins Dunkel hinabsteigt und die Natur der Fäulnis annimmt, oder dem gnostischen Symbol der sich selbst verschlingenden und zugleich gebärenden Schlange. Der Autor durchfährt in einer historiographisch-mythologischen Achterbahnfahrt die mystischen Momente der Kulturgeschichte, allerdings nicht zwecks hermeneutisch-kritischer Aufbereitung, sondern um die verschiedensten Figuren, ganz gleich, ob real oder erfunden, als Bürgen seiner eigenen Wahrheit zu benennen.
Das ist natürlich starker Tobak, zumal für einen religiös bzw. mystisch „unmusikalischen“ Leser. Denn wer sich noch nicht selbst ins „plotinsche Eine“, in den namenlosen Gott gnostischer bzw. negativ-theologischer Provenienz oder in Vergleichbares hineingesteigert hat – und wer kann das schon von sich behaupten –, für den wird „Starke Augenblicke“ über weite Strecken schwächeln.
Die Kulturgeschichte, sagt Földényi, sei kein „entschlüsselbares Rätsel, sondern ein Labyrinth, in dem alle mit ähnlichen Fragen ringen“. In eben diesem Labyrinth aber verläuft sich der Autor mit voller Absicht; und der hilflose Leser wird ohne ariadnischen Faden dort hineingetrieben. Das ist streckenweise nahezu physisch belastend und langweilig, dann wieder auf merkwürdige Weise schön und erhellend für Sekunden; man meint fast die Ekstase zu spüren, die Bedeutung von Sätzen „erleben“ zu dürfen, die man im landläufigen Sinn nicht „verstehen“ kann, da sie keine intellektuelle Einsicht, sondern dionysische Erfahrung fordern: Sätze wie „Es ist das strudelnde Chaos, dessen vollkommende Verkörperung ab und zu der Mensch selbst ist.“ Doch dann, wenn man beinahe das Gefühl hat, zusammen mit dem Autor auf der Höhe bzw. in der Tiefe zu sein, kippt der Text und verhumpelt sich in dunklen Passagen, in kontextlosen Fragmenten und kryptischen Metaphern, die eine enorme Elastizität des Denkens und einen sehr phantasievollen Rekurs auf die eigene Erfahrung verlangen. Da wird zum Beispiel die Lava als ein Gestalt gewordenes Moment des Gestaltlosen, als ein Seiendes beschrieben, an dem sich die Signatur des Nichts, aus dem die Dinge herrührten (Földényi bewegt sich hin und wieder irgendwo im Fahrwasser des späten Heidegger), deutlich ablesen lasse. Neben der Lava gibt es andere Motive – wie die „Kotze“, die dem Menschen durch den „Geruch des Todes“ seine Herkunft aus dem „Unmöglichen“, aus dem „Nicht-Sein“ anzeigen soll. Das ist alles schon ziemlich irrwitzig und auch wenn man ahnt, was Földényi meint, so werden wohl die allerwenigsten beim Kotzen schon einmal der eigenen aus sich hervor gewürgten Mitte begegnet sein.
Freilich ist das Scheitern seines Projektes, Situationen des Unsagbaren wirklich fühlbar zu machen – und sie phänomenologisch z. B. im Kotzen, im Blitz, in der Wollust und im Schmerz auszuweisen – in gewisser Weise vorprogrammiert. Denn nur auf dem Höhepunkt der Ekstase könnte man sich wohl, wenn überhaupt, in das hineinfühlen, was Földényi „das Göttliche“ nennt; sodann schließt sich der Riss und die Ordnung kehrt zurück. Es bleibt ein schales Gefühl, aber von dem ortlosen Ort der Begegnung mit dem Sein selbst kehrt man nicht zurück wie Dante von seinen Touren durchs Jenseits, um davon als Tourist zu berichten. Eine Erinnerung des Außer-Sich-Seins, eine Kartierung der Ekstase oder eine „Physiognomie der Mystik“ – wie der Untertitel des Buches lautet – kann letztlich nicht gelingen, eben weil man sich im Modus der Erzählung schon wieder in einer Welt der Differenzen befindet.