Der Tagesspiegel, 3.2.2017
Als Hannah Arendt zum Totalitarismus forschte, um die Strukturmerkmale der Terrorherrschaften Hitlers und Stalins von denen herkömmlicher Diktaturen abzuheben, pochte sie wiederholt auf die Macht des Glaubens an ideologisch-fiktive Welten. Es ging ihr um ein „buchstäbliches Ernstnehmen ideologischer Meinungen“. Arendt zufolge suspendierten das „Recht der Natur“ bei Hitler und das „Gesetz der Geschichte“ bei Stalin hergebrachte Moralvorstellungen und positives Recht. Die beiden fundamentalen Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts wurden demnach nicht durch den willkürlichen Willen zweier Machthaber, sondern durch ideologisch fundierten Terror und eine qua Gewalt etablierte Ordnung bedingt.
Der in Rostock geborene Berliner Historiker Christian Teichmann, der für seine Forschung zu Stalins Herrschaft in Zentralasien von 1920 bis 1950 jüngst den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken erhielt, wendet sich in Teilen gegen diese These. Indem er im Hinblick auf den Stalinismus eben gerade das Moment der Willkür zentriert und das Prinzip Unordnung als wesentlichen Machtmechanismus beschreibt, denkt er auf den Schultern Hannah Arendts über Hannah Arendt hinaus…