Der Tagesspiegel, 2.3.2020
Die These, dass sich zeitgenössische Gesellschaften durch ein extremes Maß an Individualisierung auszeichnen, ist längst zum soziologischen Gemeingut geworden. Ob Alain Ehrenbergs Diagnose des sich im Hamsterrad der Selbstverwirklichung kaputtlaufenden Subjekts, Ulrich Becks Analyse biografischer Zergliederung oder Andreas Reckwitz' Befund vom bunten Patchwork kultureller Praktiken und Lebensstile: Bestandsaufnahmen der Spätmoderne zeichnen uns als „Hyperindividuen".
Klassische Modernisierungstheorien von Georg Simmel, Émile Durkheim oder Max Weber haben – bei aller Verschiedenheit – stets einen notwendigen Zusammenhang von Modernisierung und Individualisierung betont. Diese wurde als linearer oder gar zielgerichteter Prozess und als Alleinstellungsmerkmal der westlichen Zivilisation gedeutet.
Die gängige Annahme: Erst als die Gesellschaften des Okzidents ihr traditionelles Gepräge abgelegt und sich sozial, kulturell und ökonomisch ausgefächert haben – mit Aufklärung, Säkularisierung, erweiterter Arbeitsteilung und industrieller Revolution also –, hat das Individuum im heutigen Sinn die Weltbühne betreten. Wir Hyperindividuen der Spätmoderne, die sich ihre maßgeschneiderte Identität auf einem Markt der Weltbilder und Lebensformen freihändig zusammenkonsumieren, wären dann dessen vollendete Form...