tip, 25.9.2013
Die Geschichte beginnt mit einem Aufbruch. Ein namenloser Ich-Erzähler hat genug von den Dingen, die ihn umgeben, vom unablässigen Strom der Eindrücke. Er kehrt der Stadt den Rücken, um in seinem Geburtsort im Haus der Eltern einen neuen Ausschnitt von Welt zu schaffen. Bei der Ankunft im Dorf, auf dem ein scheinbar zeitloser Winter lastet, muss er feststellen, dass die Eltern verschwunden sind. An ihrer statt bewohnt ein mysteriöser Junge das Haus, dessen Unterstützung er fortan als seine Aufgabe betrachtet.
Dieses Szenario bildet den Rahmen des Roman-Debüts „Das kalte Jahr“ von Roman Ehrlich, das bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2013 in Klagenfurt von der Jury überwiegend positiv bewertet wurde, bei der Preisverleihung aber leer ausging: ein sprachlich enorm präzise gehaltener Text, der eine Welt entwirft, deren traumlogische Verzerrungen dem Leser diverse Rätsel aufgeben.
Roman Ehrlich, Jahrgang 1983, kommt aus Neuburg an der Donau, und auch seine eigene Geschichte impliziert einen Aufbruch (auch wenn ihn dieser nicht zurück, sondern hinaus geführt hat), eine Suche „nach mehr Welt“, wie er sagt, nach Möglichkeiten, die in der kleinstädtischen Wirklichkeit nicht gegeben waren.
„Mehr Welt“ fand Ehrlich in der Literatur, im Lesen und Schreiben von Geschichten. Bald ging er nach Leipzig, um am Deutschen Literaturinstitut zu studieren, wo man, so die Theorie, schreiben lernen kann, ohne dies aber, wie Ehrlich sagt, „jemals auslernen zu können“. Danach machte er einen Master in Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Ehrlich kehrte also nicht wie der Ich-Erzähler seines Romans in die Geburtsstadt zurück, um am stillen Ort seine Rolle in der Welt zu finden, sondern füllt seither in der Metropole jene Rolle aus, die er längst für sich gefunden hat: die Rolle des Geschichten-Erzählers, die seinen Modus von Einflussnahme darstellt, wie er sagt, und die Weise bezeichnet, in der er den großen Diskursen seine eigene Anschauung hinzufügt. Und inzwischen kann er diese Rolle auch als (Lohn-)Arbeit begreifen. Im Augenblick schreibt er am nächsten Roman.
An „Das kalte Jahr“ hat er in zwei Anläufen (einem ersten intuitiven und einem zweiten theoretisch vorbereiteten) knapp drei Jahre gearbeitet. Die historischen Ereignisse, die der Ich-Erzähler dem jungen Hauspiraten erzählt, wurden von Ehrlich in den USA recherchiert, sind im weitesten Sinne wahr und spiegeln sich in die fiktive Handlung hinein. Auch diese Geschichten handeln vom Aufbruch, sagt er, „von Menschen, die sich in Bewegung setzen oder an der Starre der sie umgebenden Welt zugrunde gehen“. Es ist seine Methode, das Reale und das Fiktionale ineinanderzuschieben. Dieser Effekt wird durch Bilder unterstützt, die den Text unterbrechen und dafür sorgen sollen, dass das Literarische als irgendwie real wahrgenommen wird, wobei die Bilder zugleich durch den Text fiktionalisiert werden.
Und auch für das unheimliche Szenario einer endlosen Kälte – das Ehrlich im Übrigen nicht als Dystopie begreift, da die durch den Winter hervorgerufene Verknappung von Möglichkeiten einen enorm fokussieren könne – gibt es im Buch einen historischen Erklärungs-Splitter: den Ausbruch des Vulkans Tambora, der 1815 in Europa ein Jahr lang den Himmel verdunkelt haben soll. Auch der Vulkanausbruch, sagt der Autor, sei eine Art von Bewegung. Eine Bewegung im Innern, auf die – wie beim Schreiben – eine Bewegung im Außen folgt. „Das Unheimliche“, sagt Roman Ehrlich mit Peter Weiss, sei die erzwungene Untätigkeit, die starre Ordnung, in der jede Bewegung versagt.