Der Tagesspiegel, 14.09.2022
Das Luxemburger Abkommen markiert den Beginn der deutsch-israelischen Beziehungen. Zum ersten Mal wurde hier über Reparationen für die Opfer von Völkermorden diskutiert.
„Man fragte mich: Wie bitte? Sie wollen sich mit deutschen Drecksnazis, die unsere ganze Familie ermordet haben, an einen Tisch setzen und mit ihnen über Schadensersatz sprechen?“ Mit diesen Worten beschreibt der heute 102-jährige Benjamin J. Ferencz den Gegenwind, den er in Israel erfuhr, als er nur sieben Jahre nach Auschwitz mit Deutschen über Reparationen diskutierte. Vor 70 Jahren, am 10. September 1952, wurde das „Luxemburger Abkommen“ geschlossen, mit dem sich die Bundesrepublik darauf verpflichtete, 3,5 Milliarden D-Mark an Israel und weitere 450 Millionen an Juden in der Diaspora zu zahlen. Das Abkommen wird heute gemeinhin als Beginn der deutsch-israelischen Beziehungen bezeichnet – sowie als Präzedenzfall für „Entschädigungsleistungen“ an die Opfer von Menschheitsverbrechen.
In weiten Teilen der israelischen Gesellschaft seien die Zahlungen damals als „Blutgeld“ kritisiert worden, mit denen sich die Massenmörder freizukaufen suchten, erklärt die italienische Historikerin Lorena De Vita im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Die Utrechter Professorin erforscht als Lecturer der Alfred Landecker Foundation die Geschichte der „Holocaust-Diplomatie“ – und hat unter anderem auch mit Benjamin J. Ferencz, dem letzten noch lebenden Verhandler, gesprochen.
Kann das zugefügte Leid in der Shoah quantifiziert, gar abgegolten werden? Natürlich nicht, sagt der deutsch-israelische Historiker und Stiftungsratsvorsitzende der Alfred Landecker Foundation, Dan Diner. So sei es in den Gesprächen, die im niederländischen Wassenar zwischen Vertretern der jungen Bundesrepublik auf der einen und dem kaum älteren Staat Israel sowie der „Jewish Claims Conference“ auf der anderen Seite geführt wurden, auch nicht um den Holocaust gegangen – ein Begriff der zudem noch gar nicht in Gebrauch war.
Die Vertreibung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden bildete zwar die Hintergrundfolie, den unausgesprochenen Grund des Gesprächs. „In den hart geführten Verhandlungen selbst aber ging es vor allem um die Zahlung von Geldern zur Integration von jüdischen Flüchtlingen in die israelische Gesellschaft“, sagt Diner. So habe sich die Bevölkerungszahl im 1948 gegründeten Israel binnen kürzester Zeit verdreifacht, erklärt der Historiker. Der israelische Staat stand vor gewaltigen politischen, kulturellen und ökonomischen Herausforderungen und kurz vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Daher traten...