Tagesspiegel, 22.07.2023
Die schlimmste Epidemie seiner Geschichte hat Venedig vor fast viereinhalb Jahrhunderten besiegt. 1577 endete die Pest. Die Stadt indes feiert die Erlösung von der Seuche bis heute jeden Sommer – seit dem 16. Jahrhundert. Im kollektiven Gedächtnis der Venezianer:innen hat die Krankheit einen festen Platz eingenommen, ist wesentlicher Teil der Erinnerungskultur.
Und was ist mit Corona? War da mal was? Oder anders gefragt: Ist da noch was? Fast sieben Millionen Menschen sind weltweit gestorben, davon gut 175.000 in Deutschland. Die medizinischen und die sozialen Folgen von Covid 19 sind nach wie vor beträchtlich. Das Virus aber scheint aus den Köpfen verschwunden, jedenfalls aus denen, die nicht von Post-Covid oder vom Tod ihrer Lieben geplagt werden. Von einem gemeinschaftlichen Umgang mit der Seuche und einer ritualisierten Vergangenheitsbewältigung findet sich aktuell noch kaum eine Spur. Was auch, aber keineswegs nur, daran liegt, dass auf die bleiernen Seuchen-Jahre unmittelbar die des Krieges gefolgt sind. Wie hat Corona die Gesellschaft verändert – und wie verändert die Gesellschaft Corona? Was für bleibende Probleme hat die Pandemie gebracht, und wir erzählen wir uns selbst die Pandemie-Zeit in der Rückschau?
Zunächst einmal fällt auf, dass sich ein Schwellenmoment, mit dem das postpandemische Zeitalter begann, gar nicht eindeutig ausmachen lässt. Zwar haben etwa die Briten versucht, mit dem „Freedom Day“ ein Ereignis zu schaffen, welches die Krise performativ – durch die Verlautbarung „So sei es!“ – überwinden sollte. Ein wirkliches Ende aber lässt sich nicht bestimmen...