Tagesspiegel, 13.06.2023
Herr Heitmeyer, in aktuellen Umfragen kommt eine immer extremistischer werdende AfD auf bis zu 18 Prozent. Auf die sogenannte „negative Sonntagsfrage“ antwortet nur noch gut die Hälfte der Deutschen, die Rechtsaußen-Partei niemals wählen zu wollen. Sie forschen seit langem zum Rechtsextremismus. Überrascht Sie das?
Nein. Seit vielen Jahren ist eine Art Normalisierung von früher nicht salonfähigen Positionen zu beobachten. Die AfD profitiert hier von ihrer besonderen Struktur: Sie ist keine klassisch rechtsextreme Partei, insofern sie nicht explizit zur Gewalt aufruft; die bürgerliche Patina macht sie für viele gesellschaftliche Gruppen wählbar. Sie bloß als rechtspopulistisch zu bezeichnen, halte ich allerdings für verharmlosend. Ich bezeichne den politischen Typus von Parteien wie der AfD als „Autoritären Nationalradikalismus“.
Wo liegt der Unterschied?
Rechtspopulismus zielt auf kurzzeitige Erregungszustände, und arbeitet mit der ideologisch flachen Konfliktlinie Volk versus Elite. Das reicht nicht aus, um die Phänomene auf der rechten Seite des Parteienspektrums begrifflich zu fassen. Den autoritären Nationalradikalismus kennzeichnen drei nachweisbare Merkmale: Das Autoritäre besteht darin, ein verändertes Ordnungsmodell anzustreben, mit traditionellen Lebensweisen, klaren Hierarchien und dichotomischen Gesellschaftsbildern die „Wir gegen Die“, „Innen gegen Außen“, oder „Eigenes gegen Fremdes“ positionieren. Beim Nationalistischen geht es um Überlegenheitsansprüche deutscher Kultur, eine veränderte Geschichtsschreibung und Deutsch-Sein als zentralen Identitätsanker. Das Radikale besteht in einem rabiaten und emotionalisierten Mobilisierungsstil. Dieser Politiktypus ist auch anschlussfähig an eine weitverbreitete rohe Bürgerlichkeit.
Was bedeutet das, rohe Bürgerlichkeit?
Rohe Bürgerlichkeit meint eine verachtende Haltung gegenüber Schwächeren mit einer Ideologie, die bestimmte Gruppen von Menschen als ungleichwertig begreift, und sich hinter einer glatten äußeren Fassade verbirgt.
Die Hälfte der Deutschen schließt nicht aus, eine Partei zu wählen, deren wohl mächtigste Strömung, der Höcke-Flügel, geistige Anleihen beim Nationalsozialismus macht. Wie stark ist die bürgerliche Mitte der Gesellschaft von autoritären Denkmustern geprägt?
Mit dem von uns an der Uni Bielefeld entwickelten Konzept der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit konnten wir in großen Langzeitstudien von 2002 bis 2012 nachweisen, dass die Abwertungs- und Diskriminierungsformen der rohen Bürgerlichkeit in weiten Teilen der Bevölkerung tief verankert sind und schon vor der Gründung der AfD existierten. Das zeigt, dass es ein großes Potenzial von Menschen gibt, die sich zwar vom klassischen Rechtsextremismus und seiner Gewalt distanzieren, doch dem Agieren der AfD durchaus zugeneigt sind.
In Politik und Medien wird jetzt wieder über die vermeintlichen Ursachen des Höhenflugs der AfD diskutiert. Die schlechte Performance der Ampel-Regierung steht ganz oben auf der Liste. Sie meinen, die Gründe liegen tiefer?
Definitiv. Sozialwissenschaftlich gilt es lange Strecken zu beobachten, zu schauen, wie sich bestimmte Prozesse entwickeln. Das kann man nicht auf Heizungsfragen verkürzen. Diese Erklärung führt dann wieder zur falschen Behauptung, hier seien vor allem Protestwähler am Werk. Damit unterschlägt man die Mentalitäten, die sich langfristig entwickelt haben.
Was hat zu diesen Mentalitäten geführt?
Zunächst die vom Neoliberalismus hervorgerufenen sozioökonomischen Verwerfungen. Dietmar Loch und ich haben 2001 den Band „Schattenseiten der Globalisierung“ herausgegeben. Hier haben wir die Entwicklung des rechten Spektrums in Europa untersucht. Schon damals hat ein autoritärer und entfesselter Kapitalismus unter Mithilfe der Politik bei Standortentscheidungen und Sozialstandards riesige Kontrollgewinne erzielt. Nationalstaatliche Politik hingegen hat sehr viel Kontrolle verloren, auch um soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Dies hat zu sozialen Desintegrationsprozessen und zu Vertrauensverlusten in die Politik geführt. Ich habe das „Demokratieentleerung“ genannt: Der Apparat funktioniert, das Vertrauen erodiert. In 2003 etwa meinten 58 Prozent, die demokatischen Parteien würden alles zerreden und die Probleme nicht lösen.
Inwiefern profitieren die Rechten davon?
Meine These war schon 2001, dass der Nutznießer dieser Entwicklung ein rabiater Rechtspopulismus sein würde. Was da noch nicht eingerechnet war, ist das wir seit 2001 eine nicht enden wollende Serie von oft systembedingten Krisen erleben. Viele Menschen haben seither verstärkt Gefühle, über ihre Biografie die Kontrolle zu verlieren. Der autoritäre Nationalradikalismus konnte sich nicht zuletzt deshalb stabilisieren, weil er verspricht, die Kontrolle wiederherzustellen.
Ist der Rechtspopulismus somit auch das Symptom einer an sich selbst krankenden liberalen Ordnung?
Ja, insofern der Neoliberalismus zu gesellschaftlichen Verwerfungen geführt hat, die von nationalradikalen Akteuren politisch ausgebeutet werden können.
Gibt es hier Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland?
Man kann nicht leugnen...