Philosophie Magazin, 30.11.2023
Das progressive Denken ist auf Abwege geraten. Die radikal antisemitische Hamas hat den größten Massenmord an Jüdinnen und Juden seit dem Ende des Holocaust verübt und sich links wähnende Menschen überall auf dem Globus schweigen, rechtfertigen, klatschen in die Hände.
Noch am Tag des Pogroms postet die US-Amerikanische Influencerin Najma Sharif: „Was dachtet ihr denn was Dekolonisierung bedeutet? Vibes, Seminararbeiten, Essays? Loser.“ Judith Butler, Ikone des Queer-Feminismus, hat die Hamas schon vor einigen Jahren als „Teil der globalen Linken“ missdeutet und scheint auch nach der Abschlachtung von jüdischen Kleinstkindern nicht zu einer besseren Einsicht gelangt. Queere Aktivist:innen marschieren mit Dschihadisten, in deren Herrschaftsbereich sie um ihr Leben fürchten müssten, um gegen den verhassten Zionismus zu wettern. Postkoloniale Linke, die jede unbedachte Alltagsäußerung auf potenzielle „Mikrorassismen“ untersuchen und es als symbolischen Gewaltakt betrachten, wenn man Menschen mit dem falschen Pronomen anredet, verklären Vergewaltigungen, Folter und Lynchmorde als antikoloniale Befreiungsaktion. Wie kommt es, dass das postkoloniale Milieu, das den linksakademischen Diskurs dominiert, Judenhass anscheinend nicht als solchen erkennt? Warum spielt die wohl geschundenste Bevölkerungsgruppe der heute bekannten Menschheitsgeschichte in ihren Diskriminierungsanalysen keine Rolle? Woher rührt diese Leerstelle Antisemitismus?
Der blinde Fleck ist kein neues Phänomen. Eine krasse Antisemitismusvergessenheit und teilweise auch expliziter Antisemitismus haben in der Linken eine lange Tradition. Schon in den Frühschriften von Marx und Engels finden sich mitunter antijüdische Klischees, die in Marx‘ differenzierter Kritik an der abstrakten Herrschaft des Kapitals aber keine Rolle mehr spielen. Dennoch sei die „wahnhafte Personifizierung“ der „Abstraktheit von Ökonomie und Politik“, also jenes verschwörungsideologische Phantasma, das hinter dem kapitalistischen Geschehen den jüdischen Strippenzieher vermutet, auch in der europäischen Arbeiterbewegung keine Seltenheit gewesen. So konstatiert es neben vielen anderen der deutsche Politikwissenschaftler Stephan Grigat, Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule Nordrheinwestfahlen und Leiter des Centrums für Rassismus- und Antisemitismusstudien (CARS).
Der Antisemitismus als „Sozialismus der dummen Kerls“, wie August Bebel gesagt haben soll, der zwischen „raffendem“ und schaffendem“ Kapital unterscheidet und die jüdisch konnotierte „Zirkulationssphäre“ gegen die gesunde „Produktionssphäre“ profiliert, ist das wesentliche Merkmal einer verkürzten Kapitalismuskritik, die insbesondere, aber nicht nur, auf Seiten des Rechtsextremismus praktiziert wird – wo „der Jude“ als Verursacher jedweden Übels der als Zumutung empfundenen Moderne erscheint.
Als gesellschaftliches Problem identifizierte die Linke den Antisemitismus vergleichsweise selten. Eine verkürzte Rezeption des NS-Regimes als „deutschem Faschismus“ etwa erklärte über lange Zeit die Arbeiterbewegung oder die Sowjetbürger zu den wesentlichen Opfern der Naziverbrechen. Der eliminatorische Antisemitismus als Glutkern der völkischen NS-Ideologie wurde in der Regel nicht zur Kenntnis genommen – und wird es in der antiimperialistischen und postkolonial orientierten Linken oft bis heute nicht. Zwar stammen die wichtigsten Impulse für die heutige Antisemitismuskritik aus explizit linken Theoriearsenalen: Etwa Jean-Paul Sartres Beschreibung des Antisemitismus als einer „leidenschaftlichen Weltanschauung“ oder Adornos und Horkheimers Analyse der „pathischen Projektion“ aus dem Kapitel „Elemente des Antisemitismus“, das die „Dialektik der Aufklärung“ beschließt. Auch gab es immer wieder linke Aktivist:innen, die Antisemitismus benannten und bekämpften, viele von ihnen selbst jüdischer Herkunft. Dennoch: In großen Teilen der westeuropäischen Linken und im realexistierenden Sozialismus der Ostblockstaaten galt der Judenmord der Deutschen bloß als Randphänomen. Jüdinnen und Juden spielten in der sowjetischen (und postsowjetischen) Gedenkliturgie keine nennenswerte Rolle, es herrschte dröhnendes Schweigen über die Shoah, wie etwa der Politikwissenschaftler Alexander Libman oder die Historikerin Irina Rebrova bemerken. Die Erinnerungskultur wurde allein um die Formel des „antifaschistischen Widerstands“ errichtet.
Unter Stalin war Antisemitismus Staatsdoktrin. Wo den antisemitischen Antikommunisten des Westens der Bolschewismus als eine jüdische Machenschaft galt, wurden vermeintlich westliche Denkweisen in der UdSSR nicht selten als jüdischer Kosmopolitismus verfemt. Sich mit Judenhass auseinanderzusetzten, auch mit den eigenen Ressentiments, kam und kommt für weite Teile der Linken nicht in Betracht – mit gravierenden Folgen.
Die antijüdischen Affekte brachen sich in der westeuropäischen Linken, und insbesondere bei den deutschen Genossen, seit...