Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 9'22
Nancy Fraser im Gespräch
Frau Fraser, sie begreifen die vielfältigen Krisen unserer Zeit als sämtlich vom Kapitalismus verursacht. Wie hängen etwa Klima-, Wirtschafts- und Demokratiekrise zusammen?
Zunächst einmal ereignen sich diese Krisen alle im selben gesellschaftlichen System. Kapitalismus ist nicht bloß ein ökonomisches Programm, sondern eine umfassende Gesellschaftsordnung, von der die Ökonomie nur einen Teil ausmacht. Diese Ordnung zeichnet sich durch Widersprüche aus, die systematisch große Krisen produzieren. Nehmen wir die ökologische Krise als Beispiel: Der Kapitalismus ist darauf programmiert, dass Unternehmen von natürlichen und günstigen Inputs profitieren, sich Energie und Rohstoffe aneignen. Was ihnen aber nicht auferlegt wird, ist die Verantwortung, das, was sie der Natur entnehmen, wieder zurückzugeben, das Zerstörte zu reparieren. Die Beziehung von Ökonomie und natürlicher Umwelt ist deshalb krisenförmig, weil der Kapitalismus, das, was er braucht, um zu funktionieren – in diesem Fall die Natur – gleichzeitig rücksichtslos vernichtet.
Der Kapitalismus verschlingt sich selbst, oder besser er sägt an dem Ast auf dem er sitzt?
Ja. Eine ähnlich widersprüchliche Beziehung besteht zwischen der Ökonomie und dem Gemeinwesen. Die Ökonomie ist auf öffentliche Güter angewiesen, auf Infrastrukturen, die der Markt alleine nicht aufbieten kann. Auch hier schafft das System Anreize dafür, dass Unternehmen von der öffentlichen Hand profitieren, und gleichzeitig vermeiden, dafür zu bezahlen, etwa durch vielfältige Formen von nicht selten legaler Steuerhinterziehung oder -Erleichterung, Offshoring und ähnliches. Auch im Familienleben gibt es diesen Widerspruch. Das System braucht die noch immer meist von Frauen verrichtete unbezahlte Care-Arbeit, vermeidet es aber, für die Sorgenden zu sorgen und interessiert sich nicht für deren Verschleiß. Der Kapitalismus ist kannibalistisch, er schleift seine eigenen Hintergrundbedingungen. In den großen Krisen kumulieren die Effekte der Ausbeutung dessen, was der Kapitalismus selbst braucht, um zu funktionieren.
In ihren jüngst gehaltenen Benjamin-Lectures haben Sie den Kapitalismus als eine Gesellschaftsordnung beschrieben, die von drei Arbeits-Formen abhängig ist: Der ausgebeuteten Arbeit der Arbeiterklasse, der enteigneten Arbeit von rassifizierten Personen und der unbezahlten Care-Arbeit von Frauen. Wie sind diese drei Unterdrückungsregime miteinander verbunden?
All diese Formen von Arbeit sind aufs Engste miteinander verknüpft, auch wenn die jeweiligen Arbeitsformen räumlich voneinander getrennt werden. Die im kapitalistischen Zentrum ausgebeutete, aber immerhin bezahlte „offizielle Arbeit“ gestaltet sich nur deshalb profitabel, weil die Konzerne billige Energiequellen in den Dritte-Welt-Ländern anzapfen können. Diese Arbeit wird in der Peripherie des Systems von meist nicht-weißen Menschen geleistet, ist oft gar nicht reguliert, und erbärmlich bezahlt, hier spreche ich nicht mehr von Ausbeutung, sondern von Enteignung. Gleichzeitig stützt sich das System eben auf die unbezahlte Care-Arbeit. Wo kommen denn die Arbeitskräfte her? Diese müssen immer wieder hergestellt werden, dafür müssen Menschen Kinder kriegen, die aufgezogen und umsorgt werden müssen. So sind alle drei genannten Arbeitsformen ineinander verschränkt.
Sie meinen, die Arbeiter im globalen Norden können nur deshalb erfolgreich ausgebeutet werden, weil sich die Arbeitskraft in den Armen ihrer unbezahlten Partnerinnen notdürftig regenerieren kann und das Kapital die Lohnkosten zugleich durch eine permanente Ausplünderung des globalen Südens finanziert?
Ja, das beschreibt es ziemlich genau.
Die Wachstumslogik des Kapitalismus wäre demnach auf sexistische und rassistische Trennungen regelrecht angewiesen. Inwiefern gründen die modernen Konzepte Sexismus und Rassismus auf dem Kapitalismus – auch wenn Patriarchat und Xenophobie schon sehr viel länger existieren?
Natürlich gibt es die männliche Herrschaft und auch bestimmte Rollenmuster länger als den Kapitalismus. Das gleiche gilt für ethnische oder kulturelle Antagonismen. Aber im Kapitalismus haben sie neue Formen angenommen. Das System trennt die Arbeit, die darin besteht, nützliche Objekte herzustellen strukturell von jener Arbeit, die darin besteht, sich um Menschen zu kümmern. Die Trennung der Geschlechter wurde institutionell relevant und damit nachdrücklicher artikuliert als in früheren Gesellschaften. Ähnlich verhält es sich mit der „Rassifizierung“ ethnischer Differenzen in der Moderne. Die Idee, dass es verschiedene Rassen gebe, diente als Legitimation, den globalen Süden zu kolonisieren und mithin brutal zu enteignen. Zu allen Zeiten seiner bewegten Geschichte trennt der Kapitalismus nicht nur die Ökonomie vom Gemeinwesen und die menschliche Gesellschaft von der nichtmenschlichen Natur. Sondern auch die Welt der Produktion von jener der sozialen Reproduktion und die juristisch legitimierte Ausbeutung im Zentrum von der totalen Enteignung an der Peripherie. Die besagten Trennungen dienen nicht zuletzt dazu, verschiedene Formen von Arbeit zu verteilen und zu organisieren.
Also irren die klassisch marxistischen Basis-Überbau-Modelle, wenn sie die ökonomischen Haupt- von den soziokulturellen Nebenwidersprüchen scheiden?
Ich bin keine Historikerin, die erklärt, welche Konzepte wann genau entstanden sind, wie sich etwa die Entwicklung von Kapitalismus und Rassismus historisch exakt zueinander verhalten. Aber die sozio-kulturellen Trennungen sind tief ins System integriert, sie sind kein oberflächlicher Zusatz, sondern ebenso relevant, wie der ökonomische Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit...