Der Tagesspiegel, 19.6.2015
Wer heute behauptete, er sei in jeder gängigen Wissenschaft gleichermaßen gut bewandert, würde wohl zu Recht als größenwahnsinnig verspottet. Zu vielfältig, zu unüberschaubar sind die Wissensfelder der Spätmoderne, die im Akkord auf unzähligen Ebenen unzählige neue Erkenntnisse gebiert. Die Gelehrtenform unserer Zeit ist der Experte einer aufs Ganze gerechnet verschwindend kleinen Wissensprovinz. Im ausgehenden 17. Jahrhundert hingegen war es – wenn auch unter großer geistiger und körperlicher Anstrengung – noch eben möglich, die Wissenschaft als Einheit zu begreifen; Philosophie, Mathematik, Physik und Geschichte mit gleichem Ehrgeiz zu verfolgen, ohne dabei in jeder Disziplin notwendig Dilettant zu bleiben.
Im kommenden Jahr jährt sich zum 300. Mal der Todestag desjenigen Intellektuellen, den die Wissenschaftsgeschichte mitunter als letzten Universalgelehrten des Abendlandes bezeichnet. Gottfried Wilhelm Leibniz beackerte nahezu sämtliche Wissensfelder seiner Zeit, geleitet von dem Bestreben, das Ganze zu durchdringen, dabei immer bemüht, die Theorie für die gesellschaftliche Praxis nutzbar zu machen…