Der Tagesspiegel, 01.09.2022
Heutige Rechtsextremisten gelten als euroskeptisch. In der Nachkriegszeit aber hatten sie einen supranationalen europäischen Staat im Sinn.
Die EU wird von Rechtsextremen in Europa meist als historischer Irrweg betrachtet, als ein widernatürliches Gebilde, das man so schnell wie möglich abschaffen sollte. Brüssel als einen Hort verknöcherter Funktionseliten zu geißeln, die das „Volk“ einem fremden Diktat unterwerfen, gehört fest zur Liturgie der Neuen Rechten. Politikwissenschaft und die politische Mitte ordnen den rechten Rand in aller Regel als euroskeptisch, ja europafeindlich ein.
Folgt man dem am Hamburger Institut für Sozialwissenschaften (HIS) beschäftigten Historiker Alexander Hobe, waren europäische Rechtsextremisten indes keineswegs immer schon „gegen Europa“. Eine paneuropäische Einheit sei für viele Nationalisten der Nachkriegszeit vielmehr ein positiver Bezugspunkt gewesen. Die europäische Supranation als politischer Fluchtpunkt fanatischer Faschisten?
Dass die europäische Integration kein Selbstläufer war, kein schnurgerader Weg, der mehr oder weniger notwendig zu einem liberal-demokratisch ausgerichteten Staatenverbund führen musste, ist eine der Ausgangsthesen von Hobes Dissertationsprojekt „Europabegriffe der nationalen und konservativen Rechten in der deutschen und der französischen Nachkriegszeit“. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es auch andere Pläne für einen geeinten europäischen Kontinent, die mit dem Europa, in dem wir heute leben, nicht besonders viel gemein haben.
Hobes Forschung ist Teil des von der Max Weber Stiftung (MWS) ausgerichteten und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierten Verbundprojekts „Europas Gegenbewegungen. Euroskeptische Verflechtungen von den Anfängen der Europäischen Integration bis heute“. Neben Wissenschaftler*innen der MWS-Institute in London, Rom und Warschau, sind an dem Projekt auch mehrere Forscher*innen des HIS beteiligt.
Alexander Hobes Arbeit indes bürstet den Projekttitel gegen den Strich: Möchte er doch zeigen, dass der Rechtsextremismus in Deutschland und Frankreich nicht gegen Europa polemisierte, sondern – zumindest in weiten Teilen – mehr euroenthusiastisch als euroskeptisch war. Zu diesem Zweck...