Der Tagesspiegel, 27.05.2022
Unterdrückte Erinnerung an die Shoa: Warum der ukrainische Präsident trotz jüdischer Herkunft als „Nazi“ geschmäht wird – und das auf offene Ohren stößt.
Ein Präsident mit jüdischer Familiengeschichte als Anführer einer Clique von Nazis, die sich mit Gewalt an die Macht geputscht hat: Der Widerspruch in diesem Mythos über die Ukraine leuchtet, so meint man, unmittelbar ein. Viele Russinnen und Russen jedoch scheint diese sichtbare Inkonsistenz ihrer Staats-Propaganda nicht ins Grübeln zu bringen.
Für diese mangelnde Sensibilität gibt es eine Reihe von Gründen. Sicher aber hat sie auch damit zu tun, wie man in Russland die Nazi-Zeit erinnert. Mit dem Umstand, dass man die NS-Ideologie lediglich als „deutschen Faschismus“ benennt und dabei seinen ideologischen Kern, den Antisemitismus, ausblendet. So spielen Juden und das deutsche Projekt ihrer Vernichtung in den hegemonialen Erinnerungsdiskursen von Stalin an bis in die russische Gegenwart keine nennenswerte Rolle.
Wie blickten die Sowjets auf den Holocaust, wie tun es die Russen in der heutigen Zeit? Wie verbreitet ist Antisemitismus in Russland? Und gründet die russische Kriegspropaganda, für die nazistisch und jüdisch zu sein anscheinend keinen Widerspruch darstellt, auch auf einer seit langem kolportierten eigenwilligen Geschichtskonstruktion?
Jüngst machte der Außenminister der Russischen Föderation, Sergei Lawrow, auf die Frage, wie Wolodymyr Selenskyj gleichzeitig Jude und Nazi sein könne, mit der wissenschaftlich widerlegten Mutmaßung Schlagzeilen, „auch Hitler“ habe „jüdisches Blut“ gehabt. Ob bewusst oder unbewusst bediente er den antisemitischen Topos, die Juden hätten letztlich selbst schuld an der Shoah.
In die gleiche Kerbe schlug wenige Monate vor Beginn des russischen Angriffskrieges der stellvertretende Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dmitri Medwedjew. Der frühere russische Präsident nannte Selenskyj...