Der Tagesspiegel, 13.4.2020
Herr Reckwitz, in Krisenzeiten ist die Soziologie gefragter denn je, Orientierungshilfe zu leisten. Wie bewerten Sie die gesellschaftlichen und politischen Reaktionen auf die Ausbreitung von Sars-CoV-2?
Auffällig ist zunächst, dass die aktuelle Krise sehr schnell einen enormen Kommentierungsbedarf hervorgerufen hat. Im digitalen Zeitalter werden Krisen in der Gesellschaft in Echtzeit kommentiert und verarbeitet. Im Diskurs potenziert sich die Krise. Die Selbstkommentierung unseres Zustands erweckt den Eindruck eines grundsätzlichen Bruchs.
Für Soziologen stellt sich aber die Frage, inwiefern sich ein solches Ereignis tatsächlich in einen langfristigen Strukturwandel übersetzt und inwiefern nicht. Der Ausnahmezustand ist ja gerade kein Dauer- oder Normalzustand.
Dennoch scheint die kollektive Erfahrung dieser Tage die einer historischen Zäsur zu sein – nach der Pandemie, so legen es die einschlägigen Debatten nahe, wird nichts mehr so sein wie zuvor. Ihre Kollegin Eva Illouz etwa hat in der „Süddeutschen Zeitung“ jüngst auf die Fragilität der uns meist als selbstverständlich erscheinenden gesellschaftlichen Ordnung hingewiesen. Wie wirkt sich die Corona-Krise auf das Selbst-Bewusstsein der Gesellschaft aus?
Natürlich zeigt sich in großen Krisen stets der fragile und kontingente Charakter einer gesellschaftlichen Struktur, das war auch in der Finanzkrise 2008 der Fall oder nach dem 11. September 2001. Ich würde da in die aufgeregte Debatte aber etwas Nüchternheit hineinbringen wollen.
Was wir gegenwärtig erleben, ist prinzipiell als ein Fall staatlichen Risikomanagements zu werten – sicher ein besonders weitreichendes und zudem globales Risikomanagement: Das Risiko ist eine exponentielle Verbreitung der Infektion. Die Regierungen entwickeln – nicht zuletzt dank naturwissenschaftlicher Unterstützung – Strategien der Risikominimierung.
Das ist für die moderne Gesellschaft jedoch typisch: Man lässt die Seuche nicht einfach geschehen, sondern versucht die Vorgänge aktiv zu beeinflussen. Die Minimierung des einen Risikos schafft dann aber möglicherweise andere Risiken. Diese müssen gegeneinander abgewogen werden
In Ihrem jüngsten Werk „Das Ende der Illusionen“ haben Sie den Übergang vom entgrenzten Liberalismus der letzten drei Jahrzehnte zu einem einbettenden Liberalismus prophezeit. Aktuell zeigt der Staat seine Muskeln, in Deutschland ist die „Schwarze Null“ erstmal vom Tisch. Hat die aktuelle Großkrise das Potenzial, als Treibmittel eines sozioökonomischen Wandels zu wirken?
Sie hat in jedem Fall das Potenzial für einen Wandel des Staates und der Regierungspolitik. Von den 1980er bis 2010er Jahren dominierte das politische Paradigma eines Dynamisierungsliberalismus: es ging um Deregulierung und Entgrenzung, der Märkte, der Individuen, der Mobilitäten – man forcierte die Globalisierung. Der Staat zog sich häufig zurück, seine Steuerungsmöglichkeiten wurden abgebaut.
Seit der Finanzkrise 2008 hat sich aber mehr und mehr ein kritisches Bewusstsein ausgebildet, dass bestimmte staatliche Regulierungsaufgaben nötig sind, etwa wenn es um die Bereitstellung einer Infrastruktur geht oder die Sicherung von sozialen Standards, um Wohnen, Verkehr und Gesundheit.
Es ist sehr zu vermuten, dass die Pandemie dieser Renaissance des Staates einen Schub gibt: der Staat muss langfristig für eine entsprechende Gesundheits-Infrastruktur sorgen, aber auch insgesamt das dynamische Geschehen der Weltgesellschaft mit Regeln versehen. Das wäre ein einbettender Liberalismus. Als Alternative wird aber auch die Gefahr eines autoritären Staates sichtbar, der Grundrechte beschneidet...