Der Tagesspiegel, 28.4.2020
Die Überzeugung, erinnerungspolitischer Weltmeister zu sein, ist ein zentrales Motiv der gegenwartsdeutschen Selbsterzählung. Zuweilen scheint es, als sei die einstige Wahnvorstellung rassischer Überlegenheit dem Glauben an eine moralische Überlegenheit gewichen. Die vermeintlich vorbildliche Vergangenheitsbewältigung legen sich Teile der deutschen Gesellschaft als Zeugnis kultureller Fortschrittlichkeit aus.
Wie zuletzt der Essayist Max Czollek gezeigt hat, ist es dabei zur gängigen Praxis geworden, sich auf der vielbespielten Bühne des Erinnerungstheaters am Ritus kollektiver Läuterung zu laben.
Dass es mit dem Mythos einer schonungslosen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen nicht so weit her ist, wie es die einschlägigen Debatten nahelegen, unterstreicht der Berliner Politikwissenschaftler Samuel Salzborn nun mit seinem neuen Werk „Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“.
In einem pointierten Essay bündelt Salzborn zentrale Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen und historischen Antisemitismusforschung. Ausgangsthese des Werks ist, dass sich der erinnerungspolitische Diskurs der Deutschen (und der Österreicher) durch eine einschneidende Kluft definiert: Hier das Gedenken im öffentlichen Raum, dort die Leugnung im Privaten.
Das Narrativ einer tatsächlichen Aufarbeitung des Holocaust sei nicht weniger als „die größte Lüge der Bundesrepublik“. Salzborn zufolge glaubt eine kleine, linksliberale Elite, ihr intellektueller Erinnerungsdiskurs durchdringe die Gesellschaft im Ganzen.
Tatsächlich aber bestimmten Schuldabwehr und oftmals latenter Antisemitismus den psychischen Haushalt des Tätervolks. Die Metastasen von verdrängter Schuld und verdrängtem Antisemitismus manifestieren sich in einer unversöhnlichen „Israelkritik“, die durch die aus der Antisemitismusforschung bekannten drei D’s – Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards – geprägt ist...