Tagesspiegel, 09.06.2023
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. So steht es in Artikel 20, Absatz 2 des deutschen Grundgesetzes. Dabei wird zahllosen Menschen bis heute untersagt, sich in diesem Sinne selbst zu regieren – Personen, die den falschen Pass besitzen, sowie Jugendlichen diesseits der Volljährigkeit. Zwar gibt es mit Blick auf das Wahleintrittsalter auf Länderebene längst einen föderalistischen Flickenteppich: In elf Bundesländern liegt das Wahlalter für Kommunal- und/oder Landtagswahlen inzwischen bei 16 Jahren. Im Bund aber darf noch immer bloß wählen, wer das 18. Lebensjahr hinter sich hat.
Fehlt jungen Menschen, wie vor allem von konservativer Seite argumentiert wird, die Reife zur politischen Partizipation? Kann die Forschung bestätigen, dass 20-Jährigen mehr demokratische „Mündigkeit“ zukommt, als 15- oder 16-jährigen Personen? Und darf man demokratietheoretisch überhaupt auf Reife und Mündigkeit verweisen, wenn man erörtern will, wer „teilhaben“ darf, oder steht man dann schon jenseits der Demokratie?
Zunächst einmal scheint es gar nicht so leicht, Reife oder Mündigkeit klar zu definieren. Juristisch meint Mündigkeit eine mit bestimmten Altersgrenzen einsetzende Rechtsfähigkeit. Zugleich hat die Institution Schule laut Kultusministerkonferenz (KMK) den Auftrag, aus Schüler:innen mündige Bürger:innen zu machen. Die Mündigkeit im Sinne der Politischen Bildung geht über den einfachen Rechtsbegriff hinaus. So kommt diese nicht mit dem Alter wie von selbst, sondern muss zuallererst hergestellt werden.
Nach Kant meint sie die Fähigkeit zu selbstständigem Denken, die mit der Aufklärung gestärkt werden soll. Nach Adorno das Vermögen, konstruktiv zu widersprechen, eine Kompetenz zur kritischen Gesellschaftsanalyse, mit dem Zweck, dass sich „Auschwitz niemals wiederhole“ als dem Leitziel aller Pädagogik nach dem Holocaust. „Mündigkeit als Kernziel der politischen Bildung umfasst die Kompetenz zur eigenen kritischen Urteilsbildung. Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich in die Perspektive aller am Diskurs beteiligten Sprecher:innen hineinzuversetzen“, sagt Sabine Achour, Professorin für Politikdidaktik und Politische Bildung am Otto-Suhr-Institut der FU.
So demokratierelevant es ist, Menschen auch Widerstandsgeist zu vermitteln und sie in polyperspektivischem Denken zu schulen – als Voraussetzung für den Urnengang eignet sich eine pädagogische Mündigkeitsvorstellung nicht. Frei nach dem Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde lebt die Demokratie von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Sie braucht mündig-demokratische Staatsbürger:innen, doch darf Menschen nicht zwingen, demokratisch zu sein, weil sie es sonst letztlich selbst nicht mehr wäre.
Würde man ein bestimmtes Maß an „demokratischer Kompetenz“ zur Voraussetzung der Teilhabe machen, gar ein Demokratiediplom implementieren, würde sich der Demos rapide verkleinern, auch viele Erwachsene dürften nicht mehr wählen. Die Demokratie würde zur „Epistokratie“, also zur Herrschaft der Wissenden verkommen...