Der Tagesspiegel, 16.03.2021
Der Antisemitismus ist, wie Sartre erklärte, „Leidenschaft und Weltanschauung“ gleichzeitig. In seinem Werk „Überlegungen zur Judenfrage“ von 1944 untersuchte der Philosoph die starken Gefühle der Judenfeindschaft aus existenzialistischer Perspektive. Der Antisemit sei ein ängstlicher Mensch, der den Judenhass gleichsam „gewählt habe“ – ohne dass seine wahnhafte Wut von echten Juden „hervorgerufen“ würde.
Jenseits solcher theoretischen Entwürfe spielten Emotionen lange kaum eine Rolle: Weder in der historischen Antisemitismusforschung noch in den maßgeblichen Studien zur Shoah. Im Bann der „Banalität des Bösen“ konzentrierte sich die Holocaustforschung bis in die 1990er-Jahre mehr auf den in Hannah Arendts Sinne gedankenlos handelnden Schreibtischtäter als auf die fanatische Judenhasserin. Dieser Trend schwächte sich erst mit den bahnbrechenden Studien von Christopher Browning und Daniel Goldhagen ab, die die Lust der Täter am eigenen Hass und die Leidenschaft des massenhaften Mordens offenbarten.
Und doch seien antisemitische Gefühle in der historisch und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Vorurteilsforschung bis heute zu wenig untersucht worden, sagt die Leiterin des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung (ZfA), Stefanie Schüler-Springorum. Um hieran etwas zu ändern, gibt die Historikerin nun zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Jan Süselbeck den transdisziplinären Sammelband „Emotionen und Antisemitismus“ heraus.
Dabei klinge in der Rede vom „Vorurteil“ bereits das genannte Problem an. Wie mehrere Beiträge des Buches herausarbeiten, ist Antisemitismus eben nicht bloß ein oberflächliches Ensemble schlecht gefällter (Vor-)Urteile, denen man mit dem „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ ohne weiteres beikommen könnte. In ihm mischen sich Gedanken und Gefühle und gerinnen zum hartnäckigen Ressentiment; verdichten sich zur affektiven Weltanschauung.
Was aber sind die einschlägigen Emotionen des Antisemitismus? Gibt es – aller historischen Wandelbarkeit kollektiver Gefühle zum Trotz – doch überzeitliche Muster von Affekten, die die Judenfeindschaft immer schon begleiten?...