Der Tagesspiegel, 20.3.2020
Die aktuelle Coronavirus-Pandemie bildet ein für die gegenwärtigen Gesellschaften bis dato unbekanntes Szenario. Ein Virus, das sich in dieser Geschwindigkeit und Radikalität über alle territorialen und politischen Grenzen hinwegsetzt und die Welt geschlossen in Atem hält, übersteigt unseren heutigen Erfahrungshorizont.
Ob das SARS-Virus von 2003 oder das Schweinegrippe-Virus von 2009 – im globalen Maßstab betrachtet haben die bisherigen Pandemien des 21. Jahrhunderts keine vergleichbaren Reaktionen befördert. Weder epidemisch noch im Diskurs sind sie ähnlich viral gegangen.
Die Verbreitung der Seuche steht noch am Anfang – schon jetzt aber hat sie ein kollektives Trauma ausgelöst, das sich im Gedächtnis der Weltgesellschaft nachhaltig festsetzen wird.
Ein für die Gegenwart vermeintlich präzedenzloses Geschehen schärft unseren Blick für die Vergangenheit. Wie sind frühere Gesellschaften mit ähnlichen Ereignissen verfahren? Und lässt sich aus ihrem Umgang damit für unsere Zeit etwas lernen?
Sowohl die „Asiatische Grippe“ von 1957 als auch die „Hong-Kong-Grippe“ von 1968 hatten pandemische Ausmaße und forderten jeweils bis zu zwei Millionen Tote. Obwohl noch etliche Zeitzeugen dieser beiden Pandemien am Leben sind, ist das große Referenz-Ereignis, auf das die Debatte gerade ständig fokussiert, die Spanische Grippe von 1918/19, die am Ende des Ersten Weltkrieges mehr Menschen umbrachte als die Kampfhandlungen.
Ihr Wikipedia-Artikel verzeichnet exorbitante Klickzahlen, diverse Medien ziehen mehr oder weniger seriöse Parallelen zwischen Spanischer Grippe und Corona-Virus. Was ist damals geschehen? Und lassen sich die beiden Pandemien vergleichen?...