Der Tagesspiegel, 12.9.2020
Schon unmittelbar nach Beginn der Pandemie traten zahlreiche Philosophinnen, Sozial- und Kulturwissenschaftler an, den gesellschaftlichen Ausnahmezustand rational zu vermessen. Expertisen in Echtzeit dominierten die Feuilletons. Die ein oder andere Ad-Hoc-Analyse wirkte verfrüht oder unausgegoren. Doch das unerhörte historische Ereignis und das kollektive Bedürfnis nach Orientierung zwangen diverse von den Medien als Corona-Erklärer einbestelle Intellektuelle zur interpretativen Stellungnahme.
Ein halbes Jahr danach erscheinen nun die ersten seriösen Publikationen zum Thema. So etwa der aus knapp 40 Beiträgen bestehende Sammelband „Die Corona-Gesellschaft“, der laut den Herausgebern des transcript-Verlages mit dem Ziel an den Start geht „das Feuilleton-Niveau deutlich zu überschreiten und die aktuelle Lage mit wissenschaftlicher Elle zu messen“. Was hat sich seit Beginn des Diskurses getan? Und was sind – Stand heute – die zentralen Aspekte der geisteswissenschaftlichen Corona-Debatte? Die Palette reicht von historischen Einordnungen über Analysen zur Auswirkung der Pandemie auf Staatlichkeit, Demokratie, Geopolitik und das globale Wirtschaftssystem, bis zur kritischen Auseinandersetzung mit Widerstandsformen, Krisenbewältigungsstrategien und utopischen Entwürfen für die Nach-Covid-Zeit...