Der Tagesspiegel, 24.06.2021
Frau Schwarz-Friesel, Sie forschen seit vielen Jahren zu Antisemitismus in den sozialen Medien, der dort häufig eine stark israelbezogene Komponente aufweist. Wie haben Sie die Web-Rezeption des jüngsten Waffengangs zwischen Hamas/Islamischer Dschihad und den Israeli Defense Forces wahrgenommen?
Nun, ich war nicht überrascht und hatte sofort die Bilder rund um den Gaza-Konflikt von 2014 vor Augen. Genau wie damals gab es eine regelrechte Flutwelle von israelbezogenem Antisemitismus – eine globale Gleichzeitigkeit von Aktionen im Netz und auf der Straße. In den letzten sieben Jahren hat sich diesbezüglich nichts verändert. Was wir erleben, ist eine Wiederholung der Wiederholung – judäophober Israelhass, der selbstbewusst und offen ausgelebt wird.
Ihrer Forschung zufolge hat sich mit dem Aufkommen von Social Media eine historisch beispiellose Schwemme judenfeindlicher Kommunikation entwickelt. Gibt es seither wirklich mehr Antisemitismus, oder wird der Hass bloß ungehemmter artikuliert?
Das Web 2.0 ist heute der maßgebliche Multiplikator von Antisemitismen, die im digitalen Zeitalter signifikant zugenommen haben. Die von mir und meinen Mitarbeiter:innen verwendete Methode ist die Korpusanalyse, da die Ergebnisse der klassischen Umfrageforschung oft durch „Soziale Erwünschtheit“ und ähnliche Effekte verzerrt werden. Statt demoskopisch vorzugehen, haben wir mehrere hunderttausend Texte quantitativ und qualitativ analysiert. Dabei haben wir festgestellt, dass sich antisemitische Kommentare in sozialen Netzwerken in den letzten zehn Jahren vervielfacht haben. Tendenziell treffen immer mehr Menschen auf immer mehr Antisemismen, und zwar keineswegs nur in politisch orientierten Diskursbereichen, sondern vor allem in den viel benutzen Alltagsmedien des Web, zum Beispiel unter youtube-Videos. Die höchste Zahl antisemitischer Stereotype haben wir übrigens bei Twitter registriert – und zwar unter Hashtags wie „Berlin trägt Kippa“, die von Antisemit:innen gezielt infiltriert werden.
Sie sagen, dass das überlieferte Ensemble antisemitischer Stereotype nicht bloß in abseitigen Verschwörungs-Foren gewälzt wird, sondern zunehmend auf Plattformen von Alltagsnutzer:innen zirkuliert. Spiegelt sich diese „Normalisierung“ auch in anderen Bereichen der Öffentlichkeit wieder, etwa in den „klassischen Medien“?
Wir können die klassischen und die digitalen Medien nicht mehr voneinander trennen, sie sind längst eine Symbiose eingegangen – insofern ja. Das Internet ist ein Katalysator, aber man darf nicht den Fehlschluss ziehen, der antisemitische Hass würde dort erzeugt. Das Gefährliche sind die Charakteristika der digitalen Kommunikation wie Anonymität und multiple Verbreitung – die Ressentiments selbst existieren auch außerhalb der digitalen Sphäre. Was man weltweit beobachten kann, ist, dass antiisraelischer Antisemitismus eine zunehmend salonfähige Massenbewegung wird, und leider auch vor akademischen Gruppierungen nicht Halt macht. Unsere Forschung zeigt auch, dass die Dämonisierung Israels von vielen jungen User:innen, zum Beispiel in Hausarbeitsforen, als völlig normal empfunden wird.
Lassen sich denn klassischer, schuldprojektiver und israelbezogener Antisemitismus überhaupt trennscharf unterscheiden?
Nein. Bezeichnend ist, dass der israelbezogene Antisemitismus generell kein isoliertes Phänomen darstellt, das sich von klassischem oder Post-Holocaust-Antisemitismus abgrenzen ließe. Die mentale Basis des Antiisraelismus ist der alte, seit Jahrhunderten im kollektiven Gedächtnis gespeicherte Judenhass. Die tradierten Stereotype – wie Rachsucht, Gier oder jüdische Machtausübung – sind eine kulturelle Konstante und werden an die jeweilige Situation oder das Vokabular bestimmter Ideologien und Milieus angepasst. Der rechte, der linke, der islamische und der Antisemitismus der Mitte unterscheiden sich nur in Nuancen. Ein mittiger Feuilleton-Antisemitismus mag sich pseudo-rational und elaboriert geben – er bedient trotzdem die einschlägigen Stereotype, wenn auch in camouflierter Weise.
Im Zuge des jüngsten Israel-Gaza-Konfliktes wurden antisemitische Hass-Demonstrationen in einem öffentlich-rechtlichen Medien-Beitrag als „Proteste gegen die Eskalation im Nahen Osten“ verharmlost. Auch gab es diverse quasi-apologetische Beiträge, die den Raketenterror der Hamas mit den Rechtsstreitigkeiten im Jerusalemer-Viertel Scheich Dscharrah zu legitimieren suchten. Der Casus Belli war der Angriff der Hamas, trotzdem wurde Israel wiederholt als Aggressor dargestellt. Sind solche einseitigen Dartstellungen eher die Ausnahme, oder gibt es hier einen belegbaren Trend?
Wenn wir uns die globale Berichterstattung anschauen, stellen wir fest, dass das antiisraelische Narrativ fest verwurzelt ist, auch in der Qualitätspresse. Kein anderes Land wird so reflexhaft und routiniert mit unsachgemäßer Kritik überzogen. Die europäischen Medien zeichnen ein Zerrbild Israels. Das kleine Land ist prinzipiell schuld, egal was es tut oder nicht tut. Was wir hier erleben, ist eine Fortführung der uralten antijüdischen Erzählung vom „ewig schuldhaften Juden“. Auch in der jüngsten Berichterstattung zum Gaza-Konflikt gab es in den Medien wieder zahlreiche antisemitische Floskeln, unangemessene Bilder und Begriffe. Da werden zum Beispiel Artikel ganz selbstverständlich mit „Auge um Auge“ überschrieben, was auf das Motiv des „rachsüchtigen Juden“ anspielt. Auch ist ja immer wieder von der „Spirale der Gewalt“ zu lesen – Israel wird trotz seines verbürgten Selbstverteidigungsrechts eine überzogene Reaktion auf den Raketenterror der Hamas vorgeworfen.
Der sogenannte 3D-Test, der bestimmt ob Kritik an Israel antisemitisch ist oder nicht, nennt neben Dämonisierung und Delegitimierung das Kriterium der doppelten Standards.
Ganz genau, Israel wird als Aggressor diffamiert, auch wenn es angegriffen wird. Ich rate hier immer ein Reframing an...