Tagesspiegel, 11.07.2024
Morgen der Kollaps der Demokratie, übermorgen KI-Diktatur oder die Verwüstung des halben Planeten im Zuge der anrollenden Klimakatastrophe – die Zukunftserzählungen der jüngeren Gegenwart haben oft einen radikal endzeitlichen Sound. Wie Slavoj Žižek polemisch bemerkte, schwankt die kollektive Vorstellung der Zukunft heute zwischen „Dark Ages“ und „Tech-Dystopie“, nimmt sich wahlweise wie Mad Max oder Terminator aus, wie Wüstenanarchie oder Herrschaft der Maschinen.
Vor allem Aktivisten und Kulturindustrie, doch auch Medien, Sozial- und Naturwissenschaften zeichnen derzeit düstere Szenarien der Zukunft – einer nahen von der „Demokratiedämmerung“, und einer ferneren vom Ende der Zivilisation. Optimistische oder gar utopische Entwürfe stellen heute eher die Ausnahme dar – so zum Beispiel im Silicon Valley, wo die transhumanistische „Erlösung“ des Menschen von seinem biologischen Verhängnis erträumt wird.
Politik klingt heute häufig mehr nach Abwehr als nach Aufbruch, man kämpft vielleicht dafür, dass es nicht schlimmer werden möge, dass es besser wird, traut sich heute kaum wer zu hoffen – einmal abgesehen vielleicht von den Rechtspopulisten, die vorwärts in die „glorreiche Vergangenheit“ wollen. Nicht zuletzt in Deutschland ist die Stimmung eher schlecht. So legen mehrere aktuelle Studien eine wachsende Veränderungsverdrossenheit nahe, Angst und Überforderung angesichts der sich überlappenden Großkrisen – von Pandemie über Krieg und Rechtsruck bis zum Klima – sind auch unter jüngeren Menschen nicht selten, auch der Klima-Aktivismus scheint rückläufig zu sein.
Was macht es mit Gesellschaften und mit Politik, wenn vorerst kein Ende der „Krise“ in Sicht ist und Zukunftsszenarien sich trübe gestalten? Lähmt die andauernde Krisenerzählung oder motiviert sie uns umgekehrt zum Handeln? Und kann ein Blick auf frühere Zukunftserwartungen uns helfen, unsere Gegenwart besser zu verstehen?
Folgt man Ideenhistorikern wie Reinhard Koselleck oder Lucian Hölscher ist „Zukunft“ im Sinne eines einheitlichen Zeitraums geschichtlich betrachtet ein junges Phänomen. Dass Menschen sich das Zukünftige als einen stetigen Veränderungs- und Fortschrittsprozess vorstellen, sei eng an den Begriff der Geschichte gekoppelt, der ebenfalls erst in der Neuzeit entstehe. Die Idee einer prozesshaften Entwicklung der Menschheit und die Gliederung der Weltzeit in getrennte Epochen entwickelt sich demnach erst im 18. Jahrhundert.
In seiner großen Studie „Die Entdeckung der Zukunft“ erklärt Hölscher im Anschluss an Thesen von Koselleck, dass die Menschen des europäischen Mittelalters zwar von einer durch die Kirche vermittelten Endzeiterwartung geprägt waren. Außerdem habe man mit der Aussicht auf zyklisch wiederkehrende Tages- oder Jahreszeiten gelebt. Innerweltliche Wandlungsperspektiven, Entwürfe einer radikalen Umgestaltung aber, seien erst in jener Zeit nachweislich gegeben, die man gemeinhin als Moderne bezeichnet.
Nun hat es allerdings schon immer und nahezu überall bestimmte Kulturtechniken der Vorhersage gegeben...