Philosophie Magazin / Sonderausgabe Karl Marx / März 2025
Man hätte doch eigentlich annehmen sollen, dass ein genozidales Massaker an Juden gerade in sich links verortenden Milieus vermehrt zu Empörung und Protest führen würde. Stattdessen aber wurden die Gräuel der Hamas in großen Teilen der weltweiten Linken wahlweise beschwiegen oder bagatellisiert, geleugnet, gerechtfertigt oder gar gefeiert. In der postkolonial geprägten Academia wird seither nicht selten ein kaum camouflierter Erlösungsantizionismus praktiziert, der die Handschrift hergebrachten Judenhasses trägt.
Das im Vergleich zu anderen Formen des Unrechts mindestens stiefmütterliche Verhältnis vieler Linker zu Judenhass und Judeozid, sowie antijüdische Ressentiments in Geschichte und Gegenwart linker Bewegungen sind seit 10/7 zum ständigen Thema feuilletonistischer Debatten geworden.
Wer die ideengeschichtlichen Pfade des linken Antisemitismus abschreitet, landet früher oder später auch bei dem Philosophen, der wohl vielen, die sich selber als progressiv bezeichnen, noch immer als ideeller Stammvater gilt. War Karl Marx, wie manche Forscher meinen, von idiosynkratischem Judenhass durchdrungen? Welche Elemente des Antisemitismus sind nicht nur in Zeitungsartikeln und Briefen, sondern auch im theoretischen Werk manifest? Und hat das mutmaßliche Ressentiment, das Marx gegenüber dem Judentum hegte – sei es nun werkstrukturell oder nicht –, auf die „linke Geschichte“ Einfluss genommen?
Wie im Anschluss an den jüdischen Wirtschaftshistoriker Edmund Silberner viele gezeigt haben, lässt sich die erste Frage schwerlich verneinen. Zwar gibt es einen Brief an den Autor Arnold Ruge, in dem Marx im Jahr 1843 schreibt, ein Ersuchen der Jüdischen Gemeinde zu Köln (auch wenn der jüdische Glaube ihm „widerlich“ sei) an den dortigen Landtag unterstützen zu wollen. Auch äußert sich Marx in einem späteren Artikel mit dem Titel „The State of Europe“ relativ empathisch im Hinblick auf das Leiden der „Juden von Jerusalem“. Ansonsten aber strotzen nicht wenige Briefe sowie Zeitungsartikel für den „New York Harald Tribune“ nicht nur vor antisemitischen Klischees, die „den Juden“ mit klandestiner Geldmacht verknüpfen. Vor allem in der Korrespondenz mit Friedrich Engels finden sich auch regelrechte Hass-Eruptionen, in denen Karl Marx sich förmlich vergisst, wenn er, um ein Beispiel von vielen zu nennen, den Arbeiterführer Ferdinand Lasalle rassistisch und antisemitisch zugleich als einen „jüdischen Nigger“ beschimpft. Nun könnte man an dieser Stelle nachsichtig sein, und derart privat geäußerten Schmutz als psychohygienischen Ausraster werten, als eine, wie der Autor Micha Brumlik formulierte, „Regression in den Diensten des Ich“, die das eigentliche Werk nicht kontaminiert. Ohnehin befördern psychografische Thesen über den seiner Herkunft entfremdeten Marx, dessen antisemitische Eskalation in einem „jüdischen Selbsthass“ wurzele, eher bescheidenen Erkenntnisgewinn. Dass das internalisierte Fremdbild „des Juden“ sich gleichsam projektiv externalisierte, zumal es trotz der Konversion seines Vaters, auch den Nicht-mehr-Juden Marx noch als solchen fixierte, ist psychoanalytisch zwar durchaus plausibel, bleibt aber letztlich spekulativ.
Relevanter als die Frage, ob Marx Antisemit war, ist die, ob der schulbildende Teil seines Werkes zumindest ideologische Splitter enthält, die klassischen Antisemitismus transportieren. Spannend wird es dort, wie auch Brumlik erklärt, wo die Grenzlinie zwischen dem privaten Gefühl und der öffentlichen Äußerung durchlässig wird.
Klopft man nun das eigentliche Oeuvre des Autors auf Spuren einer ausgeprägten Judenfeindschaft ab, fällt besonders der kurze Text „Zur Judenfrage“ auf, den Karl Marx in seinen Zwanzigern schrieb, der 1844 in der ersten und einzigen Ausgabe der „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ erschien, und als Kritik an seinem einstigen Lehrer, dem Junghegelianer Bruno Bauer, konzipiert ist. Vor dem Hintergrund des Fortschrittsdenkens im Vormärz, wurde auch die Rechtsstellung der Juden diskutiert, nicht zuletzt unter den Junghegelianern. Einem ostentativen Progressivismus und Kritiken am christlichen Weltbild zum Trotz, troffen die Diskurse der Junghegelianer vor klassisch-christlichem Antijudaismus, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in den säkularen Antisemitismus übersetzte. Bruno Bauer, zunächst Freund und Dozent von Karl Marx, (und später, nach der Kehre zum Konservatismus, ein Pionier des Rasse-Antisemitismus) tat sich hier mit zwei Artikeln hervor, die die sogenannte „Judenfrage“ thematisierten. Im Bann des hegelschen Bewusstseinsmodells, das die fortschreitende Selbsterkenntnis des Geistes in eine gestufte Religionsgeschichte einspann, dachte Bauer das Judentum als störrisches Relikt, das sich aufgrund seiner Buchstabentreue nicht vom Christentum aufheben lasse. Dieses sah Bauer gleich Paulus von Tarsus als das „vollendete Judentum“ an, wobei er indes das atheistische Denken als höchste Form jener Abfolge dachte. Zwar sollten auch die Christen sich selbst überschreiten, diese aber stünden der Freiheit doch näher als die entwicklungsfeindlichen Juden, die sich dem Gang der Geschichte verwehrten. So müssten diese nicht nur „den Glauben“ überwinden, sondern auch die „chimärische Nationalität“, ihren von Paulus und später von Luther, sowie von Kant, Fichte, Schelling und Hegel als Übel gebrandmarkten „Partikularismus“, und so zwei Stufen auf einmal überwinden. Niemand könne zugleich Jude und „Mensch“, respektive ein Staatsbürger sein. Würden die Juden aber endlich zu Christen, könnten anschließend beide gemeinsam auch den christlichen Staat suspendieren und sich zu wirklicher Freiheit entpuppen.
An dieser Stelle nun hakt der junge Marx ein, unter anderem mit dem Ansinnen, die Emanzipationsfrage aus ihrer religiösen Fassung zu brechen und fortan materialistisch zu betrachten. Dabei geht es Marx in erster Linie gar nicht um „die Juden“. Der sich vom liberalen Radikaldemokraten hier zum Sozialisten häutende Marx will die Grenzen der liberalen Freiheit demonstrieren, und zeigen, dass die „menschliche Emanzipation“ in der Bürger-Gesellschaft nicht erreicht werden kann. So hat Karl Marx im Gegensatz zu Bauer gar nichts gegen „jüdische Emanzipation“, die Gleichbehandlung im rechtlichen Sinne sei den Juden auch als Juden zu gewähren. Damit sei aber nur wenig gewonnen. Denn solange die Gesellschaft und der Staat separiert seien, der Mensch in „Citoyen“ und „Bourgeois“ geschieden sei, also in ein öffentliches Rechtwesen hier, und ein privates Wirtschafswesen dort, sei Freiheit höchstens zur Hälfte verwirklicht. Die gesellschaftliche Ordnung müsse selber negiert, die Produktionsverhältnisse umgeworfen werden.
Marx war in diesen Jahren gerade im Begriff, an seiner „materialistischen Umstülpung“ zu werkeln. In der „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, die etwa auf dieselbe Zeit datiert wie der Text „Zur Judenfrage“, schreibt er pointiert, dass die „verkehrte Welt“ „verkehrtes Weltbewusstsein“ evoziere. Die Religion wird demzufolge „soziologisiert“, aus der Verfasstheit von Staat und Gesellschaft erklärt – ein noch etwas plumper Ökonomismus, der den „Überbau“ des obskurantistischen Glaubens als Ausgeburt der wirtschaftlichen „Basis“ begreift. Die Religion würde demnach pulverisiert, wenn die Entfremdung von der gattungsmäßig eigentlich verbürgten Sozialität des Menschen beseitigt, die falschen Verhältnisse umgeworfen wären.
Nun kann man Marx sicher keinen Vorwurf daraus machen, dass er als orthodoxer Materialist auf die Auflösung jedweder „Hirngespinste“ pochte und somit auch „die Emanzipation der Juden“ als „Emanzipation vom Judentum“ dachte. Gleichwohl war er im Hinblick auf den jüdischen Glauben, wie die Christen in der Nachfolge Paulus‘ (und Luthers), die nach wie vor stark protestantisch geprägten Denker des deutschen Idealismus, sowie die liberalen Junghegelianer ganz besonders vom Phantasma des Verschwindens beseelt.
Zumal „den Juden“ im zweiten Teil des Textes (nach der Explikation seiner neuen Methode) nun doch eine besondere Rolle zuteilwird wird, nämlich dort, wo er antisemitische Klischees mit seiner Kritik des Geldes verbrämt. Im Rekurs auf Ludwig Feuerbach, der den Egoismus als „Wesen der Israeliten“ vermeinte, setzt Marx die „Händlermentalität“, den bloß auf Eigennutz gründenden „Schacher“, ja letztlich die Sphäre der Zirkulation als weltliche Basis des Judentums an: „Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. (…) Eine Organisation der Gesellschaft, welche (…) die Möglichkeit des Schachers aufgehoben hätte, hätte den Juden unmöglich gemacht. Sein religiöses Bewusstsein würde wie ein fader Dunst (…) sich auflösen.“
Zwar nimmt Marx keine absolute Engführung vor, die die Geldwirtschaft nur mit „den Juden“ verknüpft – gleichwohl setzt er diese mit jener in eins. Später wird er formulieren, dass die „Händlersprache noch andere Mundarten“ kenne als das Hebräische. Dennoch gelten ihm die Juden als maßgeblicher Herd profitorientierter Zirkulation. Das Christentum wird in „Zur Judenfrage“ nicht zur höheren Bewusstseinsstufe verklärt, die das „geschichtswidrige“ Judentum abgelöst habe, wie bis dato in der posthegelschen Vormärz-Debatte. Die Aufhebung ist hier von anderer Art und erinnert zumindest formal an Friedrich Nietzsche, konkret an dessen „Genealogie der Moral“, die das Judentum als Urheber des Sklavenmoralismus und das christliche Prinzip als dessen Fortsetzung zeichnet, durch welche das Judentum zur Weltmacht gelangte. Auch Marx setzt das Christentum pejorativ als universalistisches Judentum an, mit welchem sich die falschen Gesellschaftsverhältnisse auf ihr heutiges Niveau begeben hätten. Bei ihm aber ist es gerade nicht die Sozialethik, die eine „natürliche Herrenmoral“ schleife, für welche er die Juden verantwortlich macht. Vielmehr ist es das Prinzip des Egoismus, welches die gemeinschaftliche Lebensart des Menschen als dessen Gattungsqualität korrumpiere, das die Juden maßgeblich (mit)gestaltet hätten.
Beim Urteil, ob „Zur Judenfrage“ nun ein strukturell antisemitischer Text ist oder nicht, ergibt sich letztlich ein uneindeutiges Bild:
So werden die Juden beim jungen Karl Marx zwar nicht als omnipotente Strippenzieher des kapitalistischen Geschehens insgesamt, oder gar als Verursacher sämtlicher als Zumutung empfundener Widersprüche der Moderne gelabelt, wie im Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts üblich. Wohl aber als maßgebliche Miturheber und Medium des kapitalistischen Geistes, und ferner als einflussreiche Instanz, die ihre fehlende bürgerrechtliche Gleichstellung durch vermeintliche Finanzmacht locker kompensiere.
Sodann nehmen die Juden bei Marx zwar nicht ihre im modernen Antisemitismus gängige Rolle des identitätszersetzenden Anti-Volkes ein, ein Gedanke, der bei Marx so nicht vorkommen kann, weil das Volk hier nicht als nationales begegnet. Der im Judenhass maßgebliche Manichäismus muss aber anders als der Soziologe Thomas Haury meint, nicht notwendig völkisch ausbuchstabiert sein. Die Juden können auch als Gegenprinzip von Christenheit, Umma, Indigenität oder eben arbeitender Klasse erscheinen. So liefert Marx‘ Frühwerk, das sich mit dem tatsächlichen Verwertungsprozess des Kapitals noch nicht beschäftigt, Ansätze zur Lesart eines plumpen Gegensatzes von „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital, von Gebrauchs- und Tauschwert, von gesunder Produktions- und krankhafter Zirkulationssphäre, von gutem Arbeiter und bösem Kapitalisten. Die im Antisemitismus übliche Personalierung der Abstraktheit von Ökonomie und Politik, die in der Folge Moishe Postones oft als „verkürzte Kapitalismuskritik“ bezeichnet wird, vollzieht Karl Marx zwar nirgends explizit. Trotzdem lässt sich ein derartiges „Denken“ mit dem Text „Zur Judenfrage“ recht gut bewerben. Zumal wenn man zusätzlich in Rechnung stellt, dass Marx die Juden auch noch später als Finanzbarone zieh, und anders als sein Partner in Crime, Friedrich Engels, der im „Anti-Dühring“ eine Kehre vollzog, bis zum Ende seines Lebens nicht wahrhaben wollte, dass ein jüdisches Proletariat existiert. Summa summarum wird der Jude zwar nicht als wandelndes Böses dämonisiert. Doch wird er motivisch sehr eng mit dem verbunden, was Karl Marx als das Böse begreift.
So ist es nicht verwunderlich, dass der Text auch in antisemitischer Absicht verwendet wurde. Zwar stimmt es, dass „zur Judenfrage“ ungleich weniger rezipiert worden ist, als viele andere Texte von Marx. Doch aber wurde die Schrift sehr viel häufiger gelesen, als von Apologeten oft behauptet worden ist, die den Meister vom Makel reinwaschen wollten. Fakt ist, dass er sämtlichen Arbeiterführern des 19. und 20. Jahrhunderts bekannt war. Die Sozialdemokraten, die den Antisemitismus nicht selten als fehlgeleiteten Antikapitalismus, aber doch als latent progressive Denkungsart begriffen, druckten ihn in ihren Parteiorganen ab, um dem oft gehegten Vorwurf zu entgehen, dass sie eine „Judenschutztruppe“ seien. Die KPD publizierte ihn in der „Roten Fahne“, in der Zeit, da sie mit den Nationalsozialisten um antisemitische Wähler konkurrierte.
Was die Rolle des Textes für die Geschichte des linken Antisemitismus betrifft, kann man jedoch festhalten, dass es seiner für dessen Entwicklung nicht bedurfte. Antisemitisierende Motive waren schon im Frühsozialismus virulent. Der (post)stalinistische Antisemitismus der Sowjetunion, der antiimperialistische Antisemitismus der Westlinken seit 1967, sowie der dekonstruktivistische und postkoloniale Antisemitismus der Gegenwart speisen sich durchweg aus anderen Quellen. Der Judenhass war dermaßen ubiquitär, dass er sich auch ohne den Text von Karl Marx in die linke Geschichte einspeisen ließ.
Zumal das Werk auch benutzt werden konnte, um gegen „Nation“ oder „Rasse“ anzudenken und letztlich auch gegen den Antisemitismus. So erklärte Rosa Luxemburg verweisend auf Marx, dass das, was dieser als „Judentum“ bezeichnet, nichts anderes ist, als der „Schacher- und Betrügergeist“, welcher in jederGesellschaft grassiert, in der es strukturelle Ausbeutung gibt.
Nicht zuletzt spielt das personalisierende Moment im Jahrhundertwerk „Das Kapital“ keine Rolle. Zwar finden sich hier noch ein paar abschätzige Bemerkungen über Juden. Tendenziell aber wird der Verwertungsprozess des Kapitals mehr als „automatisches Subjekt“ konzipiert. Es ist nicht mehr die Gier einer klandestinen Clique, sondern der intrinsische Steigerungszwang, der das kapitalistische Geschehen bestimmt.
So stellt Karl Marx als Urvater materialistischer Ideologiekritik im Sinne der frühen kritischen Theorie implizit auch die geistigen Mittel zur Kritik des Antisemitismus bereit. Dabei ließe sich mit Marx gegen Marx konstatieren, dass es nicht, wie es in „Zur Judenfrage“ heißt, der Jude ist, den die bürgerliche Gesellschaft fortlaufend „aus ihren Eingeweiden produziert“. Vielmehr produziert sie den Antisemitismus, der dieser Gesellschaft gleichsam „entspringt“, als falsche Bewältigung der vielfältigen Krise, die das Kapitalverhältnis bedingt.