Der Tagesspiegel, 17.6.2020
Der Ausnahmezustand scheint die neue Normalität zu sein. Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimakatastrophe – ohne Atempausen taumelt die Weltgesellschaft von einer Kalamität in die nächste.
Dass der notorische Krisenzustand womöglich etwas mit der Gesellschaftsform zu tun hat, die wir als Kapitalismus bezeichnen, ist auch im Pandemie-Diskurs Thema.
Im Angesicht kaputtgesparter Gesundheitssysteme, die etwa in Südeuropa hohe Sterberaten mitverursachen, wächst die Kritik an einem System, dem Mehrwert mehr wert ist als Menschenleben.
Die beiden politischen Philosophinnen Nancy Fraser und Rahel Jaeggi versuchen den tiefenstrukturellen Widersprüchen des Kapitalismus – der ihrer Auffassung nach nicht nur notorisch krisenanfällig und moralisch unzumutbar ist, sondern auch grundfalsche Lebensweisen zeitigt – seit vielen Jahren auf den Grund zu gehen. Nun ist ihr vor einiger Zeit auf Englisch geführter Dialog über Begriff, Geschichte und Kritik des Kapitalismus zur passenden Zeit auf Deutsch erschienen.
Denn Krisen, darin sind sich die an der New Yorker New School For Social Research lehrende Fraser und die an der HU lehrende Jaeggi einig, können historische Kippmomente sein.
Ausgangspunkt ihrer Debatte ist die Einsicht, dass intellektuelle Kapitalismuskritik heute nur noch als linksliberale Schwundstufe einer ehedem stolzen Tradition existiert.
Unter dem Einfluss von John Rawls und des von ihm begründeten egalitären Liberalismus sei linkes Denken heute mehr oder weniger auf ungerechte Verteilung fokussiert. Die dunklen Mechanismen der Höllenmaschine, die diese Effekte systemisch produziert, würden dabei kaum noch in den Blick genommen. Eine kritische Theorie aber, die dieses Namens würdig ist, dürfe nicht bloß an der Oberfläche kratzen, sie müsse das System als Ganzes durchdringen.
Mit dem Ziel, die kritische Theorie als „intellektuelle Seite der Revolution“ (Max Horkheimer) zu neuer Blüte zu führen, starten die beiden mit einem orthodoxen Kapitalismusbegriff in bester marxscher Tradition...