Der Tagesspiegel, 28.1.2020
Ein paar Männer sitzen bei Bier und Wein um einen runden Terrassentisch. Im Hintergrund stehen weitere Personen vor einem weißen Häuschen mit geöffneten Fensterläden und scheinen in der Sonne zu plaudern.
Was das Foto mit der idyllisch anmutenden Szene dem uninformierten Betrachter vorenthält, ist der Kontext seiner Entstehung. Die Aufnahme zeigt nämlich das sichtlich entspannte Mordpersonal des NS-Vernichtungslagers Sobibor bei seiner Freizeitgestaltung – in nächster Nähe zu den Gaskammern.
Hier und in den anderen beiden Tötungszentren der „Aktion Reinhard“, Belzec und Treblinka, wurden von März 1942 bis Oktober 1943 etwa 1,6 Millionen überwiegend osteuropäische Jüdinnen und Juden sowie 50.000 Roma und Romnija ermordet. Bislang waren lediglich zwei bildliche Aufnahmen aus Sobibor überliefert. Die Täter hatten nach Schließung der Lager gründlich ihre Spuren verwischt.
Nun hat die Öffentlichkeit Zugang zu 62 weiteren Fotos aus der zweiten der drei planmäßigen Massenmordstätten im sogenannten Generalgouvernement. Zusammen mit 299 zusätzlichen Fotos aus dem Kosmos der NS-Vernichtungspolitik sowie zahlreichen Textdokumenten bilden sie die kürzlich im niedersächsischen Völlen entdeckte Niemann-Sammlung, die am heutigen Dienstag in der Topographie des Terrors vorgestellt und außerdem in Buchform veröffentlicht wurde.
Der Fund sei nicht weniger als eine Sensation, ein „Quantensprung in der visuellen Überlieferung der Aktion Reinhard“, sagte der Historiker Martin Cüppers in Berlin. Er hoffe, dass die Fotos im öffentlichen Gedächtnis haften bleiben und sich in der Erinnerungskultur dauerhaft verankern werden. Der wissenschaftliche Leiter der zur Uni-Stuttgart gehörenden Forschungsstelle Ludwigsburg, an der zur Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus geforscht wird, gibt die Sammlung gemeinsam mit dem Bildungswerk Stanisław Hantz heraus.
Das Foto mit den feiernden SS-Leuten ist Teil der Sammlung. Was aber ist sonst auf den Bildern zu sehen, welche Erkenntnisse fördern sie zutage? Und wie ist eigentlich der Umstand zu erklären, dass die Fotos erst jetzt, gut 76 Jahre nach ihrer Entstehung, mitten in Deutschland entdeckt worden sind?...