Der Tagesspiegel, 18.9.2015
Siebzig Jahre lang ließ sich, was im Dritten Reich als „Buch der Deutschen“ und bald danach als deren größte literarische Schande galt, offiziell im Giftschrank verbergen. Ende dieses Jahres nun erlischt das Urheberrecht der bayerischen Staatsregierung am schriftlichen Symbol des schlimmsten Zivilisationsbruchs der Geschichte. „Mein Kampf“, Adolf Hitlers programmatische Hetzschrift, Kondensat der menschenverachtenden NS-Ideologie, dürfte ab dem 1. Januar 2016 in der Bundesrepublik Deutschland frei verkäuflich sein.
Nach dem Krieg vom Alliierten Kontrollrat ermächtigt, haben alle bayerischen Finanzminister bis heute als Zensoren gewirkt und sich als Wächter über die Büchse der Pandora verstanden. Nun aber lässt sich eine Veröffentlichung wohl nicht mehr verhindern, die vorhandenen juristischen Instrumente haben wenig Aussicht auf Erfolg. In Antiquariaten, im Ausland und im Internet lässt sich das Buch ohnehin legal und in allen Weltsprachen erwerben. Doch eine deutsche Neuauflage, womöglich kommerziell vertrieben, ist nicht weniger als ein Politikum, die anstehende Veröffentlichung wird in den Medien zuweilen unter der Chiffre „Countdown zu einem Tabubruch“ verhandelt. Aber geht von „Mein Kampf“ heute überhaupt noch eine Gefahr aus, hat das Buch nach wie vor ein propagandistisches Potenzial, oder rechtfertigt sich ein Publikationsverbot heute wenn überhaupt noch über die Tatsache, dass es schlicht beschämend und ärgerlich wäre, stünde der Autor Adolf Hitler plötzlich auf der „Spiegel“-Bestsellerliste?...