Philosophie Magazin, 04.04.2023
Vor knapp dreieinhalb Jahrzehnten fiel der „Eiserne Vorhang“, der Realsozialismus brach in sich zusammen und im Westen machte sich Aufbruchstimmung breit. Die liberale Demokratie wurde nun nicht bloß zum Sieger der Systeme, sondern – von manchen Politikwissenschaftlern – zum letzten Stadium der Geschichte ausgerufen. Die historische Entwicklung der menschlichen Gesellschaften sei zu ihrem segensreichen Ende gelangt, die Wonnen von Marktwirtschaft und Parlamentarismus würden auch die letzten Weltwinkel erreichen und ein Zeitalter von Freiheit und Wohlstand begründen. Und tatsächlich schien die westliche Demokratie zunächst ein politischer Exportschlager zu werden.
Der große Optimismus der Nachwendezeit aber ist längst einer totalen Ernüchterung gewichen. Ein autoritär-imperialistisches Russland, Chinas autokratischer Staatskapitalismus, antiliberale Rechtspopulisten, extremistische Formen des politischen Islam – Bedrohungen von innen und außen haben zugenommen, alternative Gesellschaftsentwürfe fordern unsere Lebensform auf breiter Front heraus. Die liberal-demokratische Ordnung ist längst in eine vielleicht grundstürzende Krise geraten.
Inwiefern aber liegen manche Anfechtungen des Liberalismus in ihm selbst begründet? Welche sozioökonomischen Mechanismen und historischen Erblasten sind es, die diese Ideologie so angreifbar machen? Und muss das „liberale Skript“ umgeschrieben werden, um im Kampf der Systeme bestehen zu können?
Zunächst einmal kann man mit dem Rechtswissenschaftler Christoph Möllers festhalten, dass es „den Liberalismus“ eigentlich nicht gibt. Stattdessen zeichnet sich das „liberale Skript“ durch eine große Bandbreite von Denkschulen aus, die teils recht unterschiedliche Formen vom liberalen Grundbegriff der Freiheit kultiviert haben. Individuelle und kollektive Freiheiten stehen im liberal-demokratischen Diskurs von Anbeginn in einem Spannungsverhältnis und werden in den dergestalt verfassten Gesellschaften stets auf neue Weise austariert.
Den Glutkern des Liberalismus bilden die „negativen Freiheitsrechte“, die die einzelnen Bürger:innen vor Gewalt durch den Staat oder durch andere Individuen schützen. Doch „positive Freiheit“ spielt hier auch eine Rolle: Eine Freiheit, die erst mit den Ressourcen entsteht, theoretische Optionen auch ausschöpfen zu können. Staatliche Eingriffe, die alle Personen mit bestimmten Möglichkeiten ausstatten, gelten nicht notwendig als Einschränkung von Freiheit, sondern mitunter auch als ihre Bedingung. Nicht zuletzt die...