Philosophie Magazin / Online / 16. Mai 2025
Seit mehr als drei Jahren nun wird die Ukraine von Putins Russland mit Krieg überzogen. Eine nachhaltige Waffenruhe zeichnet sich nicht ab. Nach dem geplatzten Treffen zwischen Putin und Selenskyj scheint eine passable diplomatische Lösung bis auf weiteres wenig wahrscheinlich.
Zentrale Akteure der Partei „Die Linke“ aber meinen, die Formel des Friedens zu kennen. Ein unverbrüchlich pazifistisches Pathos ist in ihr politisches Genom eingetragen – was ferner bedeutet keine Waffen zu liefern, auch nicht an die existenzbedrohte Ukraine. Zwar gibt es mit Bodo Ramelow und anderen längst auch prominente Vertreter der Partei, die gegenüber Waffenexporten an Kiew aufgeschlossen sind. Die offizielle Haltung der Linkspartei aber wurde zuletzt in einem Vorstandsbeschluss und außerdem von Co-Chef Jan van Aken bekräftigt: Kriegsgerät zu liefern sei grundsätzlich falsch, stattdessen optiere man für Diplomatie, am liebsten mit Xi Jinpings China als Vermittler.
Wer, wenn er heute noch unter uns weilte, dagegen Position bezogen hätte, ist Karl Marx. Ein autoritäres Russland, so Marx, sei diplomatisch mitnichten zu besänftigen – schon gar nicht durch Vermittlung einer anderen Weltmacht, die in diesem Krieg alles andere als neutral ist – und müsse mit „Kanonenbooten“ aufgehalten werden. Dass der Autor des Kapitals entschieden gegen einen seiner Ansicht nach wohlfeilen Totalpazifismus agitierte und versuchte, die sogenannten „Friedenswindbeutel“ von der Internationalen Arbeiterassoziation fernzuhalten, hat jüngst der Autor Thomas Graßmann gezeigt. In seinem Band „Marx gegen Moskau – Zur Politik der Arbeiterklasse“ porträtiert der Politikwissenschaftler einen Marx, für den die Verteidigung liberaler Staaten gegen restaurative Aggressoren wie Russland (und seinerzeit auch Deutschland) unverhandelbar war.
Anders als so manche, die sich später auf ihn stützten, war Marx trotz seiner Staatskritik in toto in der Lage, zwischen einem republikanischen Staat und einem autoritären System zu unterscheiden. Vor allem das kleine Polen lag ihm am Herzen, später auch die Unabhängigkeit der Ukraine, sein Moskau-Bild hingegen war von Argwohn geprägt. Warum war für den Internationalisten eine nationale Frage von so großem Belang? Und warum ausgerechnet Polen – und ausgerechnet Russland?
Der Fluch des Imperiums
Der Fluch des Imperiums lastete auf Russland als ökonomistischer Determinismus, es war gleichsam zur kriegerischen Landnahme verdammt – so lautete Karl Marx‘ feste Überzeugung. Nicht aufgrund eines kulturontologisch veranschlagten Gegensatzes zwischen Ost und West – wie ihn später viele Antikommunisten bemühten – gelangt er zu dieser vermeintlichen Erkenntnis. Die lange Phase expansiver Außenpolitik von den Moskowiter Fürsten des 14. Jahrhunderts (als Bezwingern und Erben der mongolischen Herrschaft) bis zum zeitgenössischen Zarismus rühre vielmehr von einem tradierten, vorkapitalistischen Wirtschaftsmuster her; von dem, was Marx, wie auch andere nach ihm, „asiatische Produktionsweise“ nannte: Ein zentralistischer Staatsapparat mit einem despotischen Herrscher an der Spitze und einer starken bürokratischen Klasse steht einer rigoros ausgebeuteten und teilweise versklavten Bauernschaft gegenüber. Der fiskalische Plünderungs-Ouroburus im Inland findet sein außenpolitisches Pendant in einer expandierenden Kriegsmaschinerie. Dieses Motiv von Russlands zeitloser Außenpolitik begegnet uns in fast allen großen Texten Karl Marx‘, zeigt Timm Graßmann in seinem Werk.
Marx denke diese – quasi analog zum Kapital – als ein auf dynamische Stabilisierung und mithin Steigerung geeichtes automatisches Subjekt.
So sei es für Marx auch kein Zufall gewesen, dass sich das Russische Reich in der turbulenten Phase nach dem Wiener Kongress zur Avantgarde der Restauration entwickelt habe und Revolutionen auch im Ausland bekämpfte, damit deren „Virus“ sich gar nicht erst verbreiten und irgendwann auch Russland heimsuchen würde – was, so die ironische Wendung der Geschichte, einige Zeit später dort umfassend geschah. Jedenfalls sah Marx Russlands Imperialismus nicht als Gegenprojekt zu seinem westlichen Pendant, sondern als Russlands intrinsisches Problem.
Nun ist an dieser Stelle ein Einwand geboten: Denn auch wenn Marx streng materialistisch argumentiert, und später die Hoffnung hegte, dass Russland sich von der Moskowiter Tradition lossagen könnte, hat die Rede von der „asiatischen Produktionsweise“ doch einen essentialistischen Klang, der mit guten Gründen kritisiert werden kann.
Zumal mit Blick auf das putinische Russland noch eine andere Interpretation naheliegt, die sich ebenfalls aus marxschen Gedanken ergibt: Wo er den „fixed Star“ der russischen Außenpolitik in einer vorkapitalistischen Produktionsweise begründet sah, beschrieb er mit dem „Bonapartismus“ freilich auch eine moderne Variante des Autoritarismus. Für Marx war klar, wie Graßmann verdeutlicht, dass auch der Westen nicht vor einem Rückfall in die „Herrschaft von Säbel und Kutte“ gefeit war; dass der Liberalismus ob seiner Probleme ins Autoritäre umschlagen konnte.
Zarismus oder Bonapartismus?
Nicht zuletzt Putins Autoritarismus lässt sich bonapartistisch interpretieren. So hat der schocktherapeutische Umbau der Planwirtschaft zu einem Deregulierungskapitalismus neoliberaler Provenienz einen Großteil der russischen Bevölkerung in den 1990er-Jahren in die Armut gestürzt. Es war diese überaus chaotische Phase, die den Boden für den späteren Backlash bereitete, und viele ihr Heil beim starken Mann suchen ließ.
Doch wie auch immer man den neoimperialen Autoritarismus Russlands genealogisch herleiten mag, ob man den lastenden Alp des Zarismus oder die enttäuschten Freiheitsversprechen des Kapitalismus verantwortlich macht – die außenpolitische Prämisse von Marx, den autoritären Staat zu bekämpfen, war in beiden Fällen dieselbe, und wäre es sehr wahrscheinlich auch heute.
Am vierten Jahrestag des polnischen Aufstandes gegen die Russen von 1863 hielt Marx auf dem Polenkongress in der Londoner Cambridge Hall denn auch eine leidenschaftliche Rede, in der er sowohl den herrschenden Klassen, als auch der Presse und den Sozialisten Westeuropas vorwarf, Russlands Aggression nicht entschlossen zu begegnen und sich mit der Teilung und Ausbeutung Polens abgefunden zu haben. Tatsächlich hatte Marx‘ Kontrahent Pierre-Joseph Proudhon den Aufstand der Polen, der sich insbesondere gegen die russische Teilungsmacht wandte, zum „Stolperstein der Diplomatie, des Völkerrechts und des Weltfriedens“ erklärt.
Marx‘ Auftritt, so zeigt das Buch von Timm Graßmann, war dabei Ausdruck eines viele Jahre währenden Versuchs, der Internationalen Arbeiterassoziation eine eigenständige Außenpolitik zu verpassen. Ohne ein freies Polen keine Freiheit in Europa, sei eine der zentralen Überzeugungen gewesen.
So ging Karl Marx zwar letztlich davon aus, dass das Proletariat kein Vaterland habe und der einstige Sieg der Revolution nationale Gegensätze einebnen werde – sein außenpolitisches Programm, so Graßman, habe nationale Fragen jedoch keineswegs negiert: „Gerade im Namen des Internationalismus trat Marx für Nationen ein, die drohten zur Beute autokratischer Großmächte zu werden.“
Dies tat er deshalb, weil er den bürgerlichen Staat, auch wenn die Freiheit in diesem bloß zur Hälfte verwirklicht war, als zivilisatorischen Fortschritt begriff; als ein verkehrt konstruiertes System, das zwar mitnichten das Ende der Historie, aber zugleich für seine progressive „Aufhebung“ schlechterdings die Voraussetzung war. Der Tummelplatz, auf dem die soziale Bewegung überhaupt erst in der Lage sei, sich zu formieren. Der Liberalismus kann in Autoritarismus – oder wenn man so will in den Faschismus – „zurückfallen“, ist aber eben nicht mit diesem identisch. Indessen ist er gleichzeitig die Möglichkeitsbedingung für postkapitalistische Transformation, und somit notwendiger Markstein auf dem Weg zum Sozialismus.
Gegen autoritäre Aggressoren
Die außenpolitische Prämisse lautete daher, republikanische Staaten zu stützen und autoritäre Aggressoren zu bekämpfen. Insbesondere in Osteuropa hielt Marx das Gewächs der Republik für schützenswert, weil nur ein von den Teilungsmächten voll befreites Polen deren Expansionsstreben aufhalten könne. Nicht zuletzt, weil die Herrschenden in Russland und Deutschland auch durch Polens Unterjochung fest im Sattel sitzen würden.
Der späte Marx entdeckte schließlich auch die Ukraine, deren Unterstützung durch westliche Staaten und die Arbeiterklasse er für notwendig hielt. Und dies im Zweifel auch mit Waffengewalt, anstelle von halbherziger Diplomatie.
Dass viele Linke seiner Zeit, wie Proudhon und Bakunin, eine falsche Politik der Äquidistanz verfolgten, und „den Angegriffenen im Namen des Friedens den Angreifern überließen“, habe laut Marx, so erläutert Timm Graßmann, nicht zuletzt an einem unterentwickelten Politikverständnis und der Geringschätzung demokratischer Bestrebungen gelegen. Genauso wie an einem fehlenden Interesse an den Fortschrittsbedingungen der Arbeiterklasse, dem Primat einer Gegnerschaft zum Liberalismus, und der Unfähigkeit diesen richtig zu bewerten.
Graßmann resümiert in Marx gegen Moskau: „Die Außenpolitik der Arbeiterklasse sollte nach Marx weder pro- noch antiwestlich, weder militaristisch noch pazifistisch sein. Sie hätte sich in erster Linie gegen das Imperium der Reaktion zu richten, da dieses keinerlei zivilisierende Seite hat, sondern bloße Gewalt bedeutet.“ Solange wie Moskau gegen Kiew marschiert, würde Marx wohl dessen volle Unterstützung verlangen.