Der Tagesspiegel, 15.1.2020
Der Begriff Postkolonialismus bedeutet, dass es koloniale Effekte gibt, die bis in die Gegenwart reichen. Wo zeigt sich das?
Das zeigt sich an einer großen Bandbreite von Phänomenen. An der Weltwirtschaftsordnung und den zum Teil buchstäblich mit dem Lineal gezogenen Grenzen afrikanischer Staaten. Zudem an der politischen, sozialen und kulturellen Konstellation und Lage vieler ehemaliger Kolonien. Natürlich auch in ehemaligen Kolonialstaaten und damit nicht zuletzt bei uns. Hier reichen die Effekte von rassistischen und orientalistischen Denkmustern, Institutionen und Bildern bis hin zu Straßen, die nach einstigen Kolonialhelden benannt sind. Auch die weitgehende Bagatellisierung des Kolonialismus im Schulunterricht würde ich dazuzählen.
Können Sie ein Beispiel geben, wie strukturelle Probleme in Ländern des globalen Südens mit dem (Post-)Kolonialismus zusammenhängen?
Folgt man dem Politiktheoretiker Achille Mbembe, war der europäische Kolonialismus in Afrika derart gewaltförmig, dass er dort gleichsam eine „politische Kultur der Gewalt“ hinterlassen hat. Der Politologe Mahmood Mamdani vertritt zudem die These, dass der britische Kolonialismus im südlichen Afrika im Zuge seines Regierungsmodells der indirekten Herrschaft einheimische Würdenträger auf lokaler Ebene mit despotischen Machtbefugnissen ausstattete und damit zur Aushebelung vormaliger Modelle der Gewaltenteilung beitrug. Mamdani geht davon aus, dass die Spätfolgen dieses Eingriffs bis heute nachwirken.
Was sind typisch koloniale Wahrnehmungsschemata und Identitätskonstruktionen, von denen westliche Gesellschaften bis heute geprägt sind?
Eurozentrismus und Rassismus. Die Vorstellung, Europa beziehungsweise der Westen sei die Speerspitze der globalen Entwicklung und dass man von selbst dorthin gekommen sei, wo man heute steht – und eben nicht auch durch Ausbeutung von Kolonien und mithilfe diverser Güter und Techniken, die von dort kamen. Von Gold und Silber über die Kartoffel und den Rohrzucker bis hin zu Webtechniken für Baumwolle. Ferner ist hier die Idee zu nennen, wir seien grundsätzlich überlegen. Und die Ausblendung des Umstandes, dass der europäische Kolonialismus in weiten Teilen etwas ganz anderes war als eine große Zivilisierungsmission oder ein Strategiespiel in der Sonne: nämlich systematische Enteignung, Plünderung, Willkürherrschaft, Ausbeutung und Gewalt, bis hin zu Sklaverei und Ethnozid...