Der Tagesspiegel, 11.09.2023
Herr Friedmann, nach neueren Umfragen ist das Vertrauen der Deutschen in demokratische Institutionen deutlich gesunken. Sie engagieren sich seit Jahrzehnten für die Demokratie. Mit welchen Gefühlen schauen Sie heute auf die Gesellschaft?
Ich bin über ihren Zustand zusehends besorgt. Über die mangelnde Diskursfähigkeit der Gesellschaft, die fehlende Bereitschaft, für die großen strukturellen Probleme miteinander Lösungen zu suchen anstatt gegeneinander. Über den Umstand, dass weite Bevölkerungsteile die Demokratie, die Freiheit immer weniger wertschätzen und nicht mehr an die Funktionsfähigkeit des Staates glauben. Darüber, dass rechtes Gedankengut in der Mitte der Gesellschaft immer salonfähiger wird. Was mich aber am meisten beunruhigt ist, dass die, die sich selbst als Demokraten definieren, mehrheitlich so zaghaft und leise sind. Die einzige Möglichkeit, Demokratie mit Sauerstoff zu füllen, ist, dass Demokratinnen und Demokraten leidenschaftlich für diese Regierungsform werben.
Das ist auch eine zentrale These Ihres nun erscheinenden Buches „Schlaraffenland abgebrannt“. Was sollte die aus Ihrer Sicht zu leise Mehrheit konkret tun, um die Demokratie gegen den erstarkenden Rechtsextremismus zu verteidigen?
Diese Frage wird mir seit Jahrzehnten gestellt. Es ist ja nicht so, dass das Deutschland der Nachkriegszeit ein Ausbund des Demokratischen gewesen wäre. Politik und Justiz waren gespickt mit braunen Elementen, die schon in der Nazizeit tätig waren. Was soll man tun? Ganz einfach: Man muss für diese Gesellschaftsform brennen! Wir müssen für die Demokratie werben, in der Schule, im Job, im Verein, und dort heftig widersprechen, wo sie angegriffen wird. Niemand behauptet, dass die Demokratie das Paradies sei, aber auch die schlechteste Demokratie ist noch besser als die beste Diktatur.
Sie beklagen, die westlich-demokratischen Gesellschaften seien in den letzten 30 Jahren zunehmend saturiert und apathisch geworden, trotz allenthalben sichtbarer Krisen und Probleme. Nun sei das „Schlaraffenland abgebrannt“. Was genau meinen Sie damit?
Zunächst muss man sagen, dass es etwa 20 Prozent der Menschen in den meisten westlichen Ländern ökonomisch oder gesundheitlich schlecht geht. Den meisten aber geht es gut. In den letzten drei Jahrzehnten haben wir uns in unserer Wohlstandsblase gemütlich eingerichtet. Alle Störgeräusche unseres Schlaraffen-Lebens haben wir weitgehend ausgeblendet – Klimaveränderungen, Kriege, Menschenrechtsverletzungen, soziale Ungerechtigkeit, massive Probleme des Bildungssystems. Wir haben an unsere Türen Verbotsschilder gehängt: Do not disturb! Viele Menschen wollten die globalen Krisen und die damit einhergehende Verantwortung nicht in ihrem Leben haben. Auch vor der immanenten Krise der Demokratie haben sie die Augen verschlossen. Nun brennt es allerorten.
Glauben Sie, dass wir allmählich aus diesem von Ihnen diagnostizierten ahistorischen Schlummer erwachen?
Es gibt Erwachungsprozesse. Insbesondere in der Covid-Krise haben wohl viele gemerkt, dass nicht einfach alles immer bleibt, wie es ist. Die junge Generation ist dabei die erste, die nicht mehr in Schlaraffen-Manier sozialisiert worden ist. Sie haben mit den gesellschaftlichen Verwerfungen rund um die sogenannte Flüchtlingskrise, mit Corona und dem Ukrainekrieg früh erfahren, dass es keine Selbstverständlichkeiten, und keine Garantie auf ein friedliches Leben gibt. Diese Generation kann sich Naivität nicht leisten. Ihr bleibt nichts andres übrig, als tatkräftig nach vorne zu gehen.
Dass alle apathisch wären, trifft auch in anderer Hinsicht nicht zu. Viele Menschen reagieren ja auf die großen Krisen, nur nicht unbedingt in einer fortschrittlichen Form. Um die 20 Prozent würden für die AfD stimmen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre.
Ja, der Rechtsextremismus hat seine Erfolgsserie, weil Menschen merken, dass es nicht einfach weitergehen kann, wie bisher. Aber anstatt konstruktiv zu reagieren, suchen sie sich Sündenböcke und träumen sich in eine Welt von früher. Dass Menschen die demokratiezerstörende AfD wählen ist aber nicht das größte Problem. Sondern dass die, die sich Demokraten nennen dieser Entwicklung oft gleichgültig begegnen. Das ist ein gefährliches Dekadenzphänomen.
Haben wir verpasst, den Anfängen zu wehren – und sind längst mittendrin?
Wir haben seit der Gründung der Bundesrepublik verpasst, den Anfängen zu wehren. An jedem einzelnen Tag ihrer Geschichte haben wir das verpasst.
Sie kamen Mitte der 1960er-Jahre als Kind mit ihren polnisch-jüdischen Eltern aus Frankreich in die junge Bundesrepublik. Wie haben Sie Deutschland damals wahrgenommen?
Als ich mit zehn Jahren nach Deutschland kam, war ich überzeugt, dass ich in ein ganz großes Gefängnis komme. Ich dachte, die Massenmörder, Schreibtischtäter, Mitläufer und Profiteure müssten doch eigentlich eingesperrt sein. Ich suchte diese Gefängnisse, aber sah Menschen, die in einer kollektiven Amnesie ihren Alltagsgeschäften nachgingen. Ich sah eine politische Struktur, die der Aufklärung des Gewesenen entgegenwirkte. Ich kam in ein Land, dessen Bevölkerung die Demokratie aufgedrückt bekommen und sich darauf geeinigt hatte, nicht nach Leichen in den Kellern zu suchen. Diese gesellschaftliche Dynamik bricht erst seit dem Ende der 1960er-Jahre nach und nach und nie vollkommen auf.
In Ihrem letzten Buch „Fremd“ erzählen Sie in verdichteter Form von Ihrer Fremdheit in der Welt und Ihrer Fremdheit in Deutschland. Woher rührt dieses Gefühl einer existenziellen Heimatlosigkeit?
Ich wurde auf einem Friedhof geboren...