Der Tagesspiegel, 14.5.2020
Frau Frevert, Sie erforschen Gefühle nicht im Sinne persönlicher Empfindungen, sondern als überindividuelles Resultat historisch gewachsener Strukturen. Auf welche Weise formt die Coronakrise unseren kollektiven Gefühlshaushalt?
Gefühle sind selbstverständlich immer persönliche Empfindungen. Aber zugleich sind sie kulturell und gesellschaftlich vermittelt, fügen sich zu Mustern, verdichten sich in sprachlich abrufbaren Repertoires. Das lässt sich in der jetzigen Krise gut beobachten. Wovon reden wir unaufhörlich? Von Angst, von Empathie, von Solidarität, von Unsicherheit, von Vertrauen.
Diese Gefühlsbegriffe greifen emotionale Befindlichkeiten ab, geben ihnen einen Namen und damit auch eine Bedeutung. Außerdem strukturieren sie die Valenz dessen, was fühlbar und sagbar ist. Wer in diesem Setting von Selbstliebe oder Misstrauen spricht, hat sofort ein Legitimationsproblem. Wenn das allerdings viele tun, ändert sich das emotionale Regime.
Lässt sich ein eindeutiges emotionales Muster benennen, mit dem (spät)moderne Gesellschaften auf Grenzsituationen und speziell auf diffuse Bedrohungslagen reagieren?
Die Sehnsucht nach Sicherheit ist wohl am stärksten ausgeprägt. Wir können mit Ungewissheit und Unsicherheit schwer umgehen, weil wir es systemisch darauf anlegen, alles und jedes unter Kontrolle zu bringen – auch uns selber und unsere Gefühle. Gleichzeitig produziert die Moderne mit zunehmender Komplexität auch immer mehr Kontingenz und damit Unsicherheit.
Technologien, die die eine Unsicherheit bannen sollten, entpuppen sich ihrerseits als Produzenten einer anderen Unsicherheit. Aus dieser Schleife gibt es kein Entkommen, und jedes Versprechen auf Sicherheit steht auf tönernen Füßen. Das führt uns die Coronakrise sehr deutlich vor Augen. Es wird „mit Sicherheit“ nicht die letzte sein …
Die Spanische Grippe von 1918/19 war ungleich tödlicher als das Coronavirus, dabei aber keine skandalisierte Krankheit. Ist das Gefühl der Angst aus emotionsgeschichtlicher Perspektive heute verbreiteter als früher?
Angst kennt viele Anlässe und Gesichter. Dass die Spanische Grippe weniger öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr – weniger als Corona, weniger aber auch im Vergleich zur letzten Cholera-Epidemie 1893 –, hatte schlicht damit zu tun, dass europäische Gesellschaften im letzten Kriegs- und ersten Friedensjahr einen Haufen anderer Probleme bewältigen mussten.
Wer mit Millionen Kriegstoten und noch mehr Verletzten und Versehrten „gesegnet“ ist, hat wenig emotionale Kapazitäten für konkurrierende Ängste und Sorgen. Ein ähnliches Phänomen können wir heute in manchen afrikanischen Ländern beobachten. Wenn Europa – wir lassen Weißrussland mal außen vor – der Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung so viel Raum gibt, heißt das auch, dass wir im Moment wenig andere Ängste haben. Und dass das „nackte Leben“ inzwischen eine Valenz hat, die es vor hundert oder zweihundert Jahren noch nicht hatte...