Der Tagesspiegel, 05.02.2023
Der russische Überfall auf die Ukraine gilt vielen Beobachter:innen nicht bloß als Angriffskrieg gegen einen souveränen demokratischen Staat, sondern auch als Krieg gegen die liberale Demokratie insgesamt. Mit der Rückkehr des Krieges nach Europa sei auch die liberale Gesellschaft und Kultur, die westliche Lebensform als solche bedroht.
Wenn in diesem Krieg auch Systeme konkurrieren, stellt sich die Frage, was den Westen hier herausfordert: Hat Putin, der den Liberalismus verachtet, eine eigene Ideologie im Angebot, ein kohärentes Gegenstück zur hiesigen Ordnung? Was sind seine Pläne für Russland und die Welt? Und warum schließlich scheint ein Großteil der Russ:innen Putins (auto)destruktive Politik zu tolerieren? „Russland hat sich seit Putins Machtantritt im Jahr 2000 schrittweise weiter autokratisiert“, sagt Gwendolyn Sasse, wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien (ZOiS) in Berlin. Ein genuin autoritärer Präsident sei er aber schon in seiner Anfangszeit gewesen – wobei das politische System in Russland den Autoritarismus gleichsam angelegt habe. So brachte die unter Boris Jelzin im Jahr 1993 eingeführte Verfassung bereits ein präsidentielles System mit starken Dekret-Vollmachten hervor. Die Kompetenzen der zwei Kammern von Russlands Parlament reichten von Beginn an nicht sonderlich weit...