Der Tagesspiegel, 1.7.2020
Das beispielloselose Menschheitsverbrechen des Holocaust ist von Deutschen geplant und durchgeführt worden – daran gibt es nicht den mindesten Zweifel. Ursachen, Umstände und Abläufe des nationalsozialistischen Völkermordes an etwa sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden sind inzwischen weitgehend erforscht. Wie sehr die lokalen Institutionen und Bevölkerungsgruppen der von den Nazis besetzten europäischen Staaten in die Entrechtung, Enteignung und Ermordung involviert waren, wird aber bis heute kontrovers diskutiert. Die nationalistischen Regierungen in Ungarn oder Polen etwa betonen derzeit – entgegen einschlägigen Forschungsergebnissen – die Osteuropäer seien im Zuge der Shoah vollkommen unschuldig geblieben.
Der in Kanada lehrende und in seiner Heimat bedrohte polnische Historiker Jan Grabowski hat in einem Artikel in der israelischen Tageszeitung „Haaretz“ nun gewichtige Vorwürfe gegen die deutsche Holocaustforschung und Teile der deutschen Politik vorgebracht. Durch ihre einseitige Fixierung auf deutsche Täter und die systematische Ausblendung nicht-deutscher Tätergruppen – wie etwa der polnischen blauen Polizei oder der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) – würden deutsche Historiker den geschichtsklitternden Erzählungen von PiS-Partei, Fidesz und Co. in die Hände spielen. Auch andere Europäer als die Deutschen hätten das „Recht auf einen Anteil an Schuld“. Der Text hat in der hiesigen Holocaustforschung nun eine Debatte ausgelöst...