tip, 3.4.2013
Es ist der vermeintliche Glanz, der dafür sorgt, dass Charlottenburg im pulsierenden Berlin-Diskurs, im Hype um den berufsjugendlichen Inselstaat an der Spree bislang eine Art Antiposition bekleidet. Das Bild, das sich so mancher Neo-Berliner von Charlottenburg macht, kommt über den Gemeinplatz vom Bonzenbezirk nicht hinaus. Charlottenburg ist in gewissen Kreisen beinahe ein Kampfbegriff, ein Nicht-Ort, von dem sich die aus der muffigen Enge ihres Heimatorts nach Nord-Neukölln geflüchteten Abenteurer unbedingt distanzieren müssen. Vielleicht war man mal zufällig am Ku’damm, hat ein bisschen versnobte Luft geatmet und disqualifiziert dann mit dem Habitus der vom Hermannplatz geborgten Street Credibility einen Bezirk, der isoliert betrachtet als Großstadt gehandelt würde: ein komplett heterogenes Gebilde, das diverse soziale Milieus zusammenführt und in dem Menschen unterschiedlichster Herkunft und Kultur miteinander leben.
Ja, Charlottenburg ist mehr oder weniger gesetzt. In Charlottenburg verändern sich die Dinge nur unmerklich. Aber Charlottenburg spielt sich nicht, Charlottenburg ist so, wie es ist. Berlin ist hier schlicht Berlin und liegt nicht, wie an manch anderem Ort, als Selbstbeweihräucherung in der Luft, wenn sich zwei Menschen unterhalten. Charlottenburg werkelt nicht an seiner Identität; die angestrengte Ausgelassenheit jener auf dem Hipster-Radar befindlichen Spaßbezirke sucht man hier vergeblich. In Charlottenburg sieht die Kneipe nicht aus, wie sich der Rebell aus Böblingen die Kneipe in Berlin vorstellt; man vermisst den Look der mit Absicht schmutzigen Bar, die ihr Interieur vom türkischen Sperrmüllantiquariat bezieht; auch die MacBook-Macchiato-Fraktion trifft man eher selten. Da ist zum Beispiel das Veritas in der Krummen Straße, wo man jeden Donnerstag sein großes Pils für 1,88 Euro bekommt (auch sonst ist der Laden nicht teuer). Das Veritas ist eine ästhetisch eher anspruchslose Pinte mit Berliner-Schnauze-Personal, in der die unterschiedlichsten Leute miteinander trinken, rauchen, feiern, Union und Hertha gucken.
Außerdem in der Krummen Straße: der südamerikanische Traditionsladen La Batea. Altgediente Guerilleros schauen von den Wänden herab, während man sein Cerveza kippt und den Tortilla-Chip in die Guacamole tunkt. Den besten Blaubeerkuchen der Welt gibt’s gegenüber beim umtriebigen Kiez-Carlo in der Olive, die beste Currywurst (ja, besser als Curry 36 und Konnopke) immer mittwochs und samstags bei Gabi auf dem Karl-August-Markt. Um die Ecke in der Pestalozzistraße befindet sich das Istanbul, das – früher in der Knesebeckstraße beheimatet und das älteste türkische Restaurant der Stadt – seit 1960 mit hervorragender Küche zu moderaten Preisen und original Istanbuler Cafйhaus-Atmosphäre aufwartet. Unweit vom Istanbul liegt die Kantstraße. Gastronomisch von chinesischen und thailändischen Restaurants dominiert (vor allem Selig, Moon Thai und die Knochenente von Good Friends sind einen Besuch wert) befindet sich hier in östlicher Richtung das Schwarze Café, 24 Stunden geöffnet, eine Charlottenburg-Institution seit den 70er-Jahren, in der man rund um die Uhr bekommt, was man will, ob warme Mahlzeit, Schnaps, Molle oder Frühstück. Jeder weiß hier für sich selbst, wann er Tag und wann er Nacht machen möchte. Auch an der Kantstraße, in den Kellerräumen des Programmkinos Delphi gelegen und in unmittelbarer Nähe zum legendären Jazz-Club Quasimodo: die kleine Vaganten Bühne mit abwechslungsreichem und ambitionierten Spielplan.
Fußläufig von Kant- und Krumme Straße liegt der Stuttgarter Platz. Der Stutti besteht seit jeher aus einem rustikalen und einem saturierten Teil, wobei eine Anwohnerinitiative seit Ende der 90er-Jahre darum bemüht ist, die einschlägigen Etablissements – Bordelle und Striplokale – von der alten Rotlichtmeile zu vertreiben, auf welcher sich Dominik Grafs Nachwuchszuhälter „Hotte“ einst im Paradies des Luden-Business wähnte. Aber das Prisma ist noch immer erhalten: Neben Ramsch- und Waffenläden, Bon Bon Bar und Hanky Panky finden sich schicke Restaurants und italienische Feinkostgeschäfte. Nirgends sonst tritt der ambivalente Charakter des Bezirks so deutlich zutage wie hier. Eine echte Perle in Charlottenburg ist der Danckelmannkiez, südlich vom Klausenerplatz, mit schönem Altbaubestand, in welchem sich nicht nur Kneipen mit so klingenden Namen wie Feueratze und Köpi bei Rainer sowie türkische Vereinshäuser und Gemüseläden befinden, sondern auch diverse Bars, Restaurants und eine 6000 Quadratmeter große Grünfläche, der soge¬nannte Ziegenhof. Der Danckelmannkiez ist eine unaufgeregt lebendige, stark multikulturelle, authentische West-Berliner Ecke, die von Touristen nur wenig frequentiert wird. Am Rande der im Verwaltungsjargon „Ortslage Klausenerplatz“ genannten Gegend, die im Süden bis zum Kaiserdamm reicht, beginnt der Lietzenseepark, auf dessen Wiesen im Sommer die Sonne genossen und dessen Wasserfläche im Winter mit Schlittschuhen befahren wird.
Charlottenburg ist mehrfarbig wie nur wenige Bezirke in Berlin. Während das rauere Charlottenburg-Nord soziokulturell mehr mit dem nordöstlich angrenzenden Wedding gemein hat als mit dem südlichen Wilmersdorf und im Problemkiez-Atlas des Berliner Innenressorts als stark kriminalitätsbelasteter Ort gehandelt wird, finden sich im Westend in einigen Straßen eben jene Villen, die dem Bezirk seinen kolportierten Nobel-Ruf eintragen. Aber an den meisten Ecken sind die Übergänge fließend, Karat und Kodder verschränken sich. Der Wohnraum ist in vielen Straßen kostengünstiger als in den überlaufenen Bezirken der Stadt und wer nicht unbedingt um die Ecke vom Kater Holzig wohnen muss und in Kauf nimmt, die großen Partyinstitutionen mit der BVG anzufahren, ist gut beraten, hier sein Dasein zu fristen. Natürlich wurden in dieser Kartierung allein aus Platzgründen diverse Orte und Geheimtipps ausgespart, die sich der inte¬ressierte Besucher wird selbst erschließen müssen – so er denn über seinen Schatten springt, mal in Charlottenburg vorbeikommt und nicht länger fürchtet, der kurfürstliche Nimbus könnte seinem Status als Berlin-Bohemien zum Schaden gereichen.
Über den Autor: Christoph David Piorkowski, Jahrgang 1984, ist in Charlottenburg geboren und aufgewachsen. Nach zwischenzeitlichem studienbedingten Exil lebt er wieder in seinem alten Bezirk.