tip, 20.3.2013
Im Jahr 1947 überquerte der Norweger Thor Heyerdahl auf einem selbst gebauten Floß aus Balsa-Hölzern den Pazifik und wurde zum Heros einer globalen Öffentlichkeit, die in der waffenfreien Heldengeschichte das Trauma des jüngsten Weltkrieges zu vergessen suchte. Die dokumentarischen Aufnahmen seiner Reise von Peru nach Polynesien brachten ihm 1951 den Oscar ein und machten Heyerdahl zum berühmtesten Norweger der Moderne. Lange Zeit sperrte sich der Anthropologe und Abenteurer gegen eine Verfilmung der Geschichte, die er in seinem Buch mit dem Titel „Kon-Tiki: Ein Floß treibt über den Pazifik“ und in der eigenen Dokumentation bereits hinreichend verarbeitet sah. Nun, elf Jahre nach seinem Tod, kommt die Überfahrt der nach dem Sonnengott der Inka benannten „Kon-Tiki“ auch in Deutschland ins Kino. In Norwegen ist die Verfilmung bereits jetzt der erfolgreichste Spielfilm aller Zeiten.
Thor Heyerdahl habe schlicht Geld für weitere Expeditionen benötigt und deshalb doch noch irgendwann seine Zustimmung zur dramaturgischen Bearbeitung der Ereignisse gegeben, erzählen die beiden Regisseure Joachim Roenning und Espen Sandberg, die zuletzt mit dem Widerstands-Epos „Max Manus“ eine Vorliebe fürs Personal der heimatlichen Historie bewiesen. Und nach allem, was sie bisher an Feedback erhalten hätten, sei es auch die richtige Entscheidung gewesen, einen nationalheiligen Mythos wie Kon-Tiki nicht nach Hollywood zu exportieren, sondern ihn in Norwegen zu belassen; wobei der Film allerdings in Europa als ein „hollywoodesker“, in Hollywood hingegen als ein europäischer Film wahrgenommen würde. Was vielleicht auch daran liegt, dass „Kon-Tiki“ auf der Pathos-Skala zwischen „extrem“ und „überhaupt nicht“ irgendwo in der Mitte rangiert.
Die Geschichte beginnt mit der bis heute stark umstrittenen ethnologischen These (die auch durch Heyerdahls Überfahrt mitnichten bewiesen wurde), dass die Polynesischen Inseln im Pazifik vor etwa 1?500 Jahren nicht von Asien, sondern von Südamerika aus besiedelt wurden. In der wissenschaftlichen Welt stößt das Völkerwanderungs-Theorem des Norwegers zunächst auf Ablehnung, und so macht sich Heyerdahl daran, mit ausschließlich „ursprünglichem“ Material aus dem ecuadorianischen Dschungel ein Floß nach indianischem Vorbild zu zimmern, um seiner Annahme auf existenzielle Weise Geltung zu verleihen. Sodann schafft er dieses nahezu steuerungsunfähige Gefährt nach Lima (der peruanische Präsident Bustamante fühlte sich durch Heyerdahls These von den kolonisierenden Urperuanern geschmeichelt und finanzierte die waghalsige Expedition) und lässt sich von den immer gleichen pazifischen Winden auf einer 8?000-Kilometer-Strecke nach Polynesien treiben. Gemeinsam mit fünf weiteren Crew-Mitgliedern erlebt Heyerdahl eine von Haiangriffen und widrigem Wetter, aber auch von überwältigenden Natureindrücken begleitete Reise, auf der niemand ernsthaft zu Schaden kommt und auf der alles in allem auch alle gut miteinander auskommen.
„Nun, das waren eben eher besonnene Norweger“, erklärt Espen Sandberg lachend auf die Frage, ob es nicht merkwürdig sei, dass sich sechs Typen in 100 Tagen auf engstem Raum nahezu kaum in die Quere kommen. Tatsächlich habe man den zwischenmenschlichen Konflikt, der in Heyerdahls Version der Kon-Tiki-Geschichte nur peripher behandelt werde, sogar konstruieren müssen; ein Besatzungsmitglied musste aus dramaturgischen Gründen „die Frage stellen“, damit der Zuschauer nicht von Heyerdahls Optimismus überfordert werde: die Frage nämlich, ob ein komplett ohne moderne Materialien konstruiertes Floß bei der Fahrt nicht vielleicht absaufen könnte. Das hat dem Film vonseiten der Nachfahren des in der Kinoversion anders als in der Wirklichkeit zweiflerischen Hermann Watzinger Kritik eingetragen. Man habe aber einen Mittelweg finden müssen zwischen „der Verantwortung vor dem historischen Material“ und der „Verantwortung, eine gute Geschichte zu erzählen“.
Thor Heyerdahls Enkel Olav, der im Jahr 2006 mit seinem wiederum selbst gebauten Floß „Tangaroa“ die gleiche Fahrt unternahm wie sein Großvater 60 Jahre zuvor – und dessen Expedition vor allem eine Geschichte über die Verschmutzung der Umwelt sowie die Überfischung des Pazifik erzählt und die Existenz von Inseln aus Plastikabfällen, die eine Fläche von der Größe von Texas einnehmen, ans Licht brachte – , meint allerdings, dass es durchaus Konflikte gegeben habe; der Großvater habe seine Crew-Mitglieder aber nicht diffamieren wollen und daher den Konfliktstoff geglättet. Es gibt also eine Diskrepanz zwischen den Ereignissen, wie sie waren, der Heyerdahl’schen Version und der Lesart des Spielfilms. Aber in welcher Variante auch immer: Die Story über ein – wie Olav Heyerdahl es ausdrückt – zugegebenermaßen „extrem egoistisches“ Forschungsprojekt, für dessen Realisierung Thor die dauerhafte Trennung von Frau und Kindern in Kauf nahm, liefert eindrucksvolle Bilder einer existenziellen Reise jenseits zivilisatorischer Sicherheit. Die dokumentarische Aufbereitung des Selbst-Erlebten hat 1951 zu Recht den Oscar für den besten Dokumentarfilm gewonnen. Mit „Kon-Tiki“ ist den Regisseuren Sandberg und Roenning nun eine spannend in Szene gesetzte Adaption dieser Geschichte gelungen.