Philosophie Magazin, 17.02.2025
Herr Weiß, AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel hat Adolf Hitler im Gespräch mit Elon Musk kürzlich als „links“ und die Nazis als „kommunistisch“ bezeichnet. Was bezwecken rechte Akteure wie Frau Weidel mit einer solchen Geschichtsklitterung?
Zum einen geht es darum, sich selbst von der historischen Belastung zu befreien. Diese Strategie setzt in weiten Teilen der extremen Rechten schon kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein. Zum anderen lassen sich die negativen Konnotationen des Nationalsozialismus so bequem auf die Linke auslagern, auch auf die der Gegenwart. Wenn Hitler links war, so die Schlussfolgerung, sind die heutigen Linken ebenfalls Nazis.
Man sagt also nicht nur, die Nazis waren links, sondern auch, dass die echten Rechten keine Nazis sind. Mithin geht es darum, die Rechte zu entlasten und gleichzeitig die Linke zu dämonisieren?
Ja, diese Argumentation ist im Grunde schon in der Mohler-Schule angelegt. Armin Mohler…
…ein zentraler Vordenker der Neuen Rechten…
…lässt die rechte Tradition in seinem Werk „Die konservative Revolution“ im Jahr 1932 enden. Das ist natürlich grotesk. Mohler selbst hat später eingeräumt, dass es sich hier um eine Geschichtskonstruktion aus strategischen Gründen handelte.
Trotz der Projektion des Nazismus auf den „Feind“, kokettiert man in rechtsextremen Kreisen auch mit diesem, etwa wenn Björn Höcke SA-Sprech bemüht, und behauptet, die Losung „Alles für Deutschland“ bloß als Gemeinplatz verwendet zu haben. Was ist der Zweck dieser Doppelstrategie, den Gegner einerseits zu „hitlerisieren“, und sich andrerseits ideengeschichtlich selbst in die Tradition der Nazis zu stellen?
Kokettieren ist tatsächlich der richtige Ausdruck. Die Parole, für die Höcke vor Gericht stand, und die auf den Dienstdolchen der SA eingraviert war, wurde auf dem AfD-Parteitag zum phonetisch kaum unterscheidbaren „Alice für Deutschland“. Das ist die klassische dog-whistle-Politik. Man sendet Signale in ein Milieu, das diese Signale auch erkennt und bleibt doch ausreichend im Ungefähren, um die NS-Anleihe abstreiten zu können, zumal die wiederholte Provokation einen Gewöhnungseffekt erzeugt. Zugleich rückt man den Gegner in die Nähe der Nazis, um ihn mit dem Bösen in Verbindung zu bringen. Das Muster wiederholt sich übrigens dort, wo man auf die Wahrnehmungslücke des linken und migrantischen Antisemitismus hinweist, den eigenen aber konsequent leugnet, obwohl man entsprechende Motive bedient.
Weidels Auslassungen folgen also einem gängigen Muster der Neuen Rechten, die mit dem Konstrukt der „konservativen Revolution“ seit Jahren versucht, der Geschichte des Nationalsozialismus einen „Trotzkismus von rechts“ einzuschreiben, um ihr historisch bemakeltes Denken von Shoah-Assoziationen zu befreien. Wie tief haben rechtsintellektuelle Netzwerker von Armin Mohler bis Götz Kubitschek als ideologische Hintermannschaft in den parteipolitischen Rechtspopulismus hineingewirkt?
Die metapolitische Rechte und die AfD sind nicht identisch, aber es gibt eine Art Diskursgemeinschaft. Die AfD-Oberen übernehmen deren Schlagwörter und Narrative. Wenn Alice Weidel etwa von „Remigration“, „Schuldkult“ oder „Kulturmarxismus“ spricht, nutzt sie diese einschlägigen Wörter sehr bewusst. Doch auch wenn sie schon bei Kubitschek in Schnellroda war, heißt das nicht, das sie systematisch metapolitisch geschult worden ist, sie ist dort nicht einmal sehr beliebt. Gleichwohl geht die Strategie der Neuen Rechten auf, ihre Begriffe gezielt in den öffentlichen Raum einzuspeisen und sie allmählich zu normalisieren. Wenn man sich zudem den Referentenapparat und die für die Bildungsarbeit zuständigen Mitarbeiter ansieht, stößt man vielfach auf neurechte Kader. Diese Ebene arbeitet ideologisch zu. Die Wirkung dessen darf man nicht unterschätzen.
Götz Kubitschek nennt die kritische Geschichtsschreibung mit Blick auf die NS- und Holocaust-Forschung eine „Vergiftung der Vergangenheit“. Sind geschichtspolitische Invektiven, die ein positives und ungebrochenes Verhältnis zum „Deutschtum“ vermitteln sollen, eine erfolgversprechende Waffe im metapolitischen Kampf um kulturelle Hegemonie?
Aktuell ist alles, was Identität verspricht, erfolgversprechend, egal, ob das subkulturelle, religiöse oder nationale Narrative sind. Das gesteigerte Identitätsbedürfnis ist nicht zuletzt eine Reaktion auf Globalisierungseffekte, die zur Auflösung gesichert geglaubter Identitätsmodelle beigetragen haben. Hier wird auf Geschichte rekurriert, wie sie nie war, auf idealisierte historische Mythen, um Gemeinschaft, Kontrolle und Größe zu verheißen. Die Wiedererringung einer angeblich verlorenen nationalen Identität zählt zu den Kernanliegen, daher ist die Geschichtspolitik zentral.
Die Formel „Great again“ als Mantra völkischer (und islamistischer) Akteure verfängt mithin nur durch eine verzerrte Darstellung des Gestern, die der Soziologe Zygmunt Baumann als „Retrotopie“ bezeichnet hat. Muss die in historisch-kritischer Optik zwangsläufig problematisch erscheinende Vergangenheit gleichsam notwendig umgeschrieben werden, um als Muster für die Zukunft herhalten zu können?
Ich denke ja. Wiedergeburtsmythen gründen immer auf Legenden, insofern ist der wissenschaftliche Zugang zu Geschichte hier eine Art natürlicher Feind. Und zwar deshalb, weil die historiographische Forschung ihrem Sinn nach nicht identifikatorisch motiviert ist und die auf Identifikation geeichte Mytenbildung ihrer sachlichen Überprüfung in der Regel nicht standhalten kann. So ist es kein Wunder, dass Kubitschek und andere der Geschichtsschreibung eine wortwörtliche Kriegserklärung gemacht haben. Dabei erklärt man die historisch-kritische Geschichtsschreibung zur Folge eines totalitären Verordnungsprozesses, den man erklärtermaßen abwickeln möchte. Im Nebensatz macht man indes unumwunden klar, die Geschichte – wie Wladimir Putin – selbst von oben verordnen zu wollen.
In Ihrem neuen Buch „Das deutsche demokratische Reich. Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört“ beschreiben Sie die „Resignifikation“ als szenetypisches Propagandamittel faschistischer Agitatoren in Geschichte und Gegenwart. Wie genau funktioniert diese Umkodierung von Ereignissen, historischen Personen und Begriffen?
Zentral ist, dass diese über eine bloße Neuinterpretation hinausgeht. Sie erhebt vielmehr den Anspruch, dass die Geschichte selbst eine andere gewesen ist als „offiziell“ verlautbart wird. In meinem Buch mache ich das am Beispiel eines vermeintlichen Goebbels-Zitates deutlich, das seit Jahrzehnten durch die rechte Publizistik geistert. Es wird immer wieder – auch zum Beispiel von Erika Steinbach – auf den „Sozialismus“ im Namen der NSDAP hingewiesen, um zu beweisen, dass es sich hier um eine linke Partei handelte. Dabei wird die an zahlreichen Quellen belegbare Tatsache unterschlagen, dass der Begriff des Sozialismus selbst Anfang des 20. Jahrhunderts eine Umdeutung erfahren hat. In der Aufstiegsphase der NSDAP hatte „Sozialismus“ für den Zeitgenossen andere Konnotationen als im 19. oder der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Während des Ersten Weltkrieges ist der Begriff sukzessive von einer sozialen zu einer eher nationalen, obrigkeitsstaatlichen Integrationsideologie umgedeutet worden. Nur aufgrund dieser Verschiebungsleistung, die von zum Marxismus vollkommen konträren Denkern wie Oswald Spengler und Arthur Moeller van den Bruck intentional ausformuliert wurde, war es für die NSDAP möglich, sich ihren Namen zu geben. Die Nazis wussten sehr gut, welche verschiedenen Bedeutungsebenen sie mit dem Begriff des Sozialismus transportieren. Dies wird von heutigen Rechten unterschlagen, die hier auf einer Diskursstrategie aufbauen, die mittlerweile über hundert Jahre alt ist.
Die NS-Strategen selbst sind also das Vorbild einer Praxis, die von ihren heutigen Geistesgenossen auf eben diese Vorbilder angewendet wird. Sie erklären, dass die Propagandisten der Nazis mit dem schillernden Begriff des Sozialismus agitierten, weil sie durch den Kollaps des Wilhelminismus erkannt hatten, dass eine Massenbasis in der Arbeiterschaft für den modernen Antimodernismus unabdingbar ist. War die Strategie demnach, sich etwa die wohlfahrtsstaatlichen Konnotationen des Begriffs anzueignen, ihn aber zugleich von seinem internationalistischen Gepräge zu befreien, ihn also „volksgemeinschaftlich“ umzubesetzen?
Ja, allerdings wurde diese Strategie bereits von den Vorgängern der einschlägigen NS-Strategen geleistet, eben jenen Rechtsintellektuellen der 1920er-Jahre, die Armin Mohler und seine Nachfolger vor dem Vorwurf der NS-Verstrickung reinzuwaschen such(t)en. Der „Sozialismus“ dieser konservativ-revolutionären Denker meine nicht Internationalismus, sondern Nationalismus. Das hat allerdings nur deshalb funktioniert, weil der Begriff zu jener Zeit ein großes Gerechtigkeitsversprechen transportiert hat. Van den Bruck und andere haben genau solche Techniken der begrifflichen Neuinterpretation bei gleichzeitiger „Gewinnmitnahme“ der alten Bedeutung bewusst entwickelt und zur Anwendung gebracht.
Man löscht die semantische Ladung eines Begriffs also nicht vollständig, sondern nur teilweise, nimmt einiges mit, lässt anderes fallen, der „Genosse“ wird im „Volksgenossen“ aufgehoben, er wird zwar negiert, doch auch schemenhaft bewahrt. Demnach scheint es, dass die Resignifikations-Praxis besonders erfolgreich ist, wenn sie nicht völlig „aus der Luft gegriffen“ ist.
Das ist die Voraussetzung dafür, dass das Projekt der Umdeutung von Geschichte in autoritärer Absicht breitenwirksam gelingen kann. Dabei können sich die besagten Strategen den Umstand zunutze machen, dass so schillernde Begriffe wie Freiheit, Volk, Demokratie oder eben Sozialismus selten auf ein ursprüngliches Signifikat verweisen.
Als zentrales Beispiel für eine derartige Umschreibung nennen Sie auch die neurechte Aneignung des Ostens, also den positiven Bezug auf einen kulturellen und geografischen Raum, der für viele Rechte lange ein Feindbild gewesen ist. Welche Absichten liegen einer Geschichtspolitik zu Grunde, die die DDR als preußischen Ordnungsstaat und die Sowjetunion als modernisierte Form des russischen Reiches interpretiert?
In den heutigen Rückblicken des russischen Nationalismus wird die Sowjetunion positiv in die Tradition des russischen Imperiums gestellt. Auch hier gilt, dass das imperiale Moment der Sowjetunion keine Erfindung ist, jedoch lässt sie sich darauf eben nicht reduzieren. Die deutsche Seite kommt ihnen dabei entgegen und wendet das Muster ihrerseits auf die DDR an, in der das Preußische und Ordnungsstaatliche ja durchaus angelegt war, ohne dass sie darin vollkommen aufgegangen wäre. Man rekurriert also auf Teilelemente und erklärt sie zum Ganzen. Was insofern absurd ist, weil Sowjetunion und DDR für den rechten Antikommunismus ja lange ein Hort des Bösen gewesen sind. Die frühere Todfeindschaft verschwindet nun hinter der Ordnungsliebe und den autoritären Elementen, auf die man sich affirmativ bezieht.
Die Umschreibung der Geschichte wird demnach nicht nur von den rechten Akteuren des „Westens“ betrieben, sondern im Einklang mit der russischen Seite. Dmitri Medwedjew etwa nennt nicht mehr Nazideutschland, sondern das „angelsächsische Kapital“ als Hauptverantwortlichen für den Zweiten Weltkrieg und den Überfall auf die Sowjetunion. Gleichzeitig ist der „große vaterländische Krieg“ gegen den Faschismus noch immer die wichtigste histo-politische Erzählung in Russland. Wie passt das zusammen?
Von solchen Deutungen war auch die kommunistische Parteigeschichtsschreibung nicht frei. Im Sinne der klassischen Dimitroff-Theorie wurde der Nazismus einerseits zur Agentur des Finanzkapitals erklärt, und also in das Schema der kapitalistisch-kommunistischen Ideologie-Konfrontation integriert, was eine dramatische Fehlinterpretation war. Gleichzeitig hat man den Krieg als einen „vaterländischen“ nationalisiert. In der DDR schließlich konnte man sich von der Nazivergangenheit freisprechen, indem man den Faschismus einfach auf den westeuropäischen „Klassenfeind“ projiziert hat. Den politischen Feind zum
Nazi zu erklären, war und ist dabei aber auch schlicht ein wirksames Propagandamittel. Auch hier ist im historischen Mythos ein Funken Wahrheit enthalten. Denn vor dem Krieg gab es ja durchaus gute Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und den westlichen Mächten. Allerdings gab es diese auch von Seiten der Sowjetunion, was im russischen Geschichtsbild freilich nivelliert wird.
Aber geht es den russischen und deutschen Rechten von heute nicht auch darum, den eigentlichen Hauptfeind klar zu markieren, Differenzen von früher herunterzuspielen, eine Achse Moskau-Berlin zu begründen, ein, wie Alexander Dugin es sich vorstellt, „erdverbundenes“ eurasisches Bündnis gegen die „atlantischen Mächte“ des Westens?
Der Putin-Administration geht es wohl in erster Linie darum, die Amerikaner aus Europa herauszukriegen. Man verbündet sich mit jenen antiliberalen Kräften des Westens, und speziell eben auch Deutschlands, für die die nach dem zweiten Weltkrieg einsetzende Amerikanisierung den Grund einer vermeintlichen Dekadenz darstellt, die seither immer mehr wahrzunehmen sei. „Der Westen“, weniger als geografischer Ort, denn als politisches und kulturelles Projekt, wird zum Hauptfeind erkoren. Von Leuten wie Dugin einmal abgesehen, würde ich aber sagen, dass die russische Führung bei aller ideologischen Gemeinsamkeit ein vornehmlich instrumentelles Verhältnis zu ihren rechten Partnern im Westen pflegt. Wenn die äußerste Linke in Europa stärker wäre, würde man wahrscheinlich eine andere argumentative Schiene fahren. Die russische Geopolitik stützt sich nach meinem Eindruck auf die Ideologeme, die ihr nützen, wobei man festhalten muss, dass der geopolitische Anspruch, eine von der Geschichte berufene, imperiale Großmacht zu sein, selbst schon eine Form von Ideologie darstellt. Insofern sind Ideologie und Pragmatismus letztlich nur schwer voneinander zu trennen.
Wie Sie in Ihrem Buch „Die autoritäre Revolte“ darlegen, bemühen neurechte Denker nicht selten die auf Carl Schmitt zurückgehende Unterscheidung von „wirklichem“ und „absolutem“ Feind. Der wirkliche, oder besser der konkrete Feind sei für die Rechte aktuell „der Islam“. Zum absoluten Feind aber werde ein (nicht selten als jüdische Machenschaft gelesener) Liberalismus bzw. Universalismus erklärt, der die Substanz des Volkes zersetze, und den man sich selbst „von den Knochen waschen“ müsse, wie Armin Mohler pointiert formuliert hat. So könnte man mit Samuel Salzborn festhalten, dass „der Islam“ für die heutige Rechte eine fremde Identität darstellt, während „das Judentum“ für die Auflösung des Identitätsprinzips insgesamt steht. Das vornehmliche Problem, dass die Rechte mit dem Islam hat, scheint demnach zu sein, dass er sich ins „Abendland“ ausgebreitet hat, nicht, dass er überhaupt existiert. Ist das rechte Problem mit dem Liberalismus, und den Juden als dessen vermeintlichem Prinzip, hingegen eines des Daseins als solchem?
In gewisser Weise ja. Für Alexander Dugin etwa, der sich ja viel auf Carl Schmitt sowie andere äußerst Rechte Denker des Westens bezieht und umgekehrt von den metapolitischen Rechten des Westens gehypt wird, geht es auf jeden Fall explizit darum, nicht nur den geopolitischen Akteur der USA, sondern die westlich-liberale Tradition als solche zu zerstören, da diese drohe, den autochthonen Volksgeist zu zersetzen. Eine solche Denkweise ist vielleicht nicht immer, aber oft auch antisemitisch aufgeladen. Deutsche Publizisten klagten schon Anfang des 20. Jahrhunderts über die vermeintliche Verkommenheit der Briten, die einmal Wikinger gewesen und nun zu „Händlern“ verkommen, also im Grunde liberalisierte, verweichlichte Germanen seien. Es geht der Rechten darum, die vermeintlich ursprünglichen, heroischen, traditionalistischen, maskulinen Identitäten wieder herzustellen. Das ist der Kern reaktionärer Wiedergeburtsideologien. Für „den Islam“ hingegen hegen die rechten Denker der Gegenwart durchaus eine Art projektive Hassliebe. Man will ihn nicht hier haben und hält die liberale Verweichlichung für den Grund dafür, dass er sich ausbreiten konnte, bewundert aber zugleich dessen vermeintlich ungebrochenen Heroismus, den man für die eigene Wir-Gruppe möchte.
So ist es nicht verwunderlich, dass viele rechte Denker der Gegenwart große Sympathien für das Mullah-Regime im Iran hegen. Die gleichen Kräfte, die massiv gegen Muslime in Europa agitieren, schätzen das Traditionsfixierte, sowie den Souveränismus und das lokale Hegemonial-Streben des Iran. Auch Assad fand man in den einschlägigen Kreisen toll, obwohl er für sehr viele Flüchtlinge verantwortlich war, die nach Europa gekommen sind. In den Augen von Islamisten und Rechten, die in dieser Weise denken, ignoriert der aus der Aufklärung hervorgegangene Universalismus die natürlichen Eigenschaften der Völker. Das macht ihn zum ungleich gefährlicheren Gegner, als ein bloß rivalisierendes Volk.
Mit dem Konzept des „Ethnopluralismus“ meint die Rechte, die vermeintlich natürlichen Volkskulturen erhalten zu wollen, die der „blutleere Gleichmacher“ Liberalismus seiner imperialen Herrschaft unterwerfe. Wie verhalten sich die Ideologien von Souveränismus und Ethnopluralismus, zu der an Carl Schmitt geschulten Raum-Theorie, der zufolge bloß eine Handvoll Mächte natürliche Einflusszonen besitze?
Die Konzepte stehen im Widerspruch zueinander, denn die Schmittsche Raum-Theorie hat einen imperialen Kern. Zwar sollen ihre jeweiligen Imperien nicht weltumspannend bzw. universalistisch sein, sondern jeder Raum im »Pluriversum« einen „Hegemon“ haben. Dieses Großraum-Konzept widerspricht der Idealvorstellung isoliert voneinander siedelnder Ethnien, die jeweils nebeneinander ihre Volkskulturen gedeihen lassen. Allerdings nimmt dieses Konzept ohnehin niemand wirklich ernst, es dienst vor allem der Agitation, während das eigentliche Anliegen die Hegemonie im Großraum bleibt. Das führt wiederum zu Konflikten unter den Rechten verschiedener Länder, denn ob nun Deutschland, Frankreich oder Österreich diesen Platz beanspruchen kann, wird jeweils unterschiedlich beantwortet.
Auch wenn der „Ethnopluralismus“ vor allem ein strategisches Konzept ist, scheint es in der Praxis zuweilen doch eine Diskrepanz zwischen ethnisch-souveränistischen und raum-theoretischen Ansprüchen zu geben. Sympathisiert die Neuen Rechte des Westens nicht sowohl mit einer bestimmten Tradition des ukrainischen Ultranationalismus, als auch mit einem russischen Großreich, das ja in weiten Teilen der Szene als „Katechon“, also Gegenmacht des westlichen Liberalismus gefeiert wird?
Da stecken sie in einem Dilemma, weil sie sich von einem souveränistischen Standpunkt aus eigentlich gegen Russland stellen müssten, was manche Akteure der Szene auch getan haben. Die Rechte ist sich in der Ukraine-Frage überhaupt nicht einig, zum Beispiel sind die Neonazis vom III. Weg mit den ukrainischen Asow-Akteuren vernetzt. Das ist aber eher eine Minderheit. Der Großteil der Szene vertritt, teils aus ideologischen, teils aus pragmatischen Gründen, einen klar pro-russischen Standpunkt. Dies kam spätestens, nachdem sich die Ukraine klar für Europa und den Westen ausgesprochen hat, während man in Putins Autoritarismus die eigenen Werte verwirklich sieht.
Der subversive Angriff auf den Wahrheits-Hegemon, auf das vermeintlich durch Macht motivierte westozentrische Wissensregime, galt lange als emanzipatorische Praxis. Inwieweit machen sich rechte Akteure bei ihren Geschichtsumdeutungen auch postmoderne Narrative zunutze und bauen auf bei vielen für links gehaltene Diskursstrategien wie die Dekonstruktion?
Sie knüpfen an postmoderne Denkmuster an, wobei die sogenannte Postmoderne ja selbst von Denkern der 1920er-Jahre wie Martin Heidegger beeinflusst wurde. Auch wenn es im postmodernen Denken durchaus ein progressives Moment und eine notwendige Kritik an manchen Erstarrungen innerhalb der marxistisch geprägten Linken gab, blieb dieses Denken auch an rechte Narrative anschlussfähig. Endgültig droht es stets dort zu kippen, wo aus der Dekonstruktion eine Rekonstruktion wird, was auch in Teilen der Linken geschieht, wenn Identität, die erschüttert werden sollte, plötzlich umso stärker affirmiert wird. Kulturelle Marker wie etwa ein Kopftuch wurden plötzlich wieder essentialisiert, obwohl man das vermeintlich Feste und Fixierte doch eigentlich subvertieren wollte. Doch auch das Gegenmodell, ein radikaler Sozialkonstruktivismus ist hochproblematisch. Die Idee, dass jede Wahrheit macht- oder interessengeleitet sei, konnten sich rechte Akteure zunutze machen, wovon die Debatten um „alternative Fakten“ zeugen. Wobei diese Kräfte den Wahrheitsrelativismus nur als Abrissbirne nutzen. Wenn sie erstmal an der Macht sind, wird ihre eigene „Wahrheit“ ins Recht gesetzt und verabsolutiert. Hier schlägt die Dekonstruktion nicht versehentlich in Rekonstruktion um – diese ist von vornherein das anvisierte Ziel.
Der Politikwissenschaftler Wjatscheslaw Morosow hat Russland, scheinbar widersprüchlich, als „subalternes Imperium“ bezeichnet. Man reklamiert einen natürlichen Anspruch auf Größe und wähnt sich vom westlichen System unterdrückt. Dabei stützt man sich auf postkoloniale Begriffe. Auch ein allgemeiner Menschenrechtsdiskurs, sowie generell der Universalismus, gelten als verlarvte koloniale Aggression gegen das Besondere im russländischen Reich. Sind die antiimperialistische Linke mit ihrer Vorliebe für nationalistische Befreiungsbewegungen und viele postkoloniale Akteure mit ihrem ethnokitschigen Indignitäts-Fetisch heute näher an solchen Blut-und-Boden-Konzepten als an der Idee der befreiten Gesellschaft?
Dort, wo der postkoloniale Diskurs über seine legitime Kritik an den europäischen Kolonialverbrechen hinausgeht und eine vermeintlich ursprüngliche Gemeinschaft rekonstruieren möchte, also die Vergangenheit der „Indigenen“ romantisch verklärt, kann das durchaus der Fall sein. Also dort, wo die oben genannte Rekonstruktionsphantasie einsetzt und eine Abkehr von jeder Form des universalistischen Denkens gefordert wird. In jüngster Zeit konnte beispielsweise der Antizionismus eine antimodernistische Verbindung zwischen der völkischen Rechten, dem Islamismus, und einem postkolonialen Diskurs schlagen.
Findet hier selbst eine Art positiv gewendete Orientalisierung statt?
Ja, das ist im Grunde sehr nah bei Karl May oder den klassischen Motiven des edlen Wilden.
Zurück nach Deutschland. Die Neue Rechte scheint in ihrem Kampf um kulturelle Hegemonie zunehmend erfolgreicher zu sein. Nun hat der Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz sich bei seinem Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik von der rechtsextremen AfD unterstützen lassen. Ein radikalisierter Konservatismus hat dem Faschismus in Geschichte und Gegenwart häufig als Steigbügelhalter gedient. Wie gefährlich ist der aktuelle „Brandmauer“-Bruch?
Ich halte ihn für sehr gefährlich. Die österreichische Entwicklung droht uns auch in Deutschland, also dass es ein offenes Zusammengehen von Konservativen mit Rechtsextremen geben wird. Dass der etablierte Konservatismus in Europa wahlweise marginalisiert wird, seine eigenen Programme rechtspopulistisch auflädt oder aktiv mit völkischen Kräften zusammenarbeitet, ist dabei auch ein Erfolg der metapolitischen Rechten. Deren Strategie, Begriffe, wie „Remigration“, und somit auch entsprechende Wahrnehmungsweisen, gezielt in der Mitte der Gesellschaft zu verankern, hat sich leider als ziemlich erfolgreich erwiesen.
Wie sollten sich jene Teile von Gesellschaft, Politik und Wissenschaft verhalten, die diese Entwicklung aufhalten wollen?
Zunächst sollte man sich darüber im Klaren sein, dass die Gesellschaft bei dieser Entwicklung nur verlieren kann, vor allem in den unteren Segmenten. Das globale Bündnis der Tech-Milliardäre mit den Kräften der äußersten Rechten zeigt ebenso wie die steuerpolitischen Vorstellungen und Rufe nach drastischen Einsparungen in den sozialen Sicherungssystemen, dass sich auch im Westen ein illiberaler Oligarchenkapitalismus herausbildet. Diese Entwicklung wird von den verschiedenen Segmenten des rechten Randes immens befeuert. Es gilt nun, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Gegenbewegung zur Verteidigung von Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und mittlerweile auch den menschlichen Lebensgrundlagen zu organisieren.
Volker Weiß ist Historiker und freier Publizist Er forscht zu Geschichte und Gegenwart der extremen Rechten in Deutschland sowie zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und gilt als einer der profiliertesten Experten für die Neue Rechte. Sein neues Buch „Das Deutsche Demokratische Reich. Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört“ ist gerade im Klett-Cotta-Verlag erschienen.
Christoph David Piorkowski ist Journalist und Autor. Er schreibt hauptsächlich geistes- und sozialwissenschaftlich fundierte Gesellschaftsanalysen und politische Feuilletons. Schwerpunkte seiner Arbeit sind NS- und Holocaustforschung, Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus, Islamismus sowie Demokratie- und Autoritarismusforschung.