Das Parlament, 6.01.2020
Ihr erstes Seminar zum Postkolonialismus gab Ina Kerner vor 15 Jahren. Die Professorin für Dynamiken der Globalisierung, die heute das Institut für Kulturwissenschaften der Universität Koblenz-Landau leitet, ist Expertin für die hartnäckigen Langzeiteffekte des europäischen Kolonialismus. Damals sei ihr der Vorwurf begegnet, postkoloniale Studien seien für die hiesige Wissenschaftslandschaft "zu exotisch". Die einschlägige Ablehnung hatte auch damit zu tun, dass der Kolonialismus in Deutschland oft als "Vergangenheit der anderen" wahrgenommen wurde.
Denn mit Verweis auf den Verlust der deutschen Kolonialgebiete im Anschluss an den Ersten Weltkrieg hob hierzulande früh eine geschichtsklitternde Erzählung an, in der die kolonialistische Expansion des 19. und 20. Jahrhunderts als alleinige Erbschuld von Briten, Belgiern und Franzosen erschien. Dort, wo man eine deutsch-koloniale Vergangenheit bekannte, wurde sie häufig idealisiert.
Lange Zeit befassten sich in Deutschland denn auch nur wenige Spezialisten wie der Historiker und Afrikawissenschaftler Andreas Eckert oder eben die Politikwissenschaftlerin Ina Kerner mit den historischen Ablagerungen kolonialer Praktiken und Denkmuster. Allmählich jedoch sei die Entwicklung einer kritischen Haltung auch über Experten-Kreise hinaus zu bemerken, sagt Kerner. "Mit den Debatten um das Humboldt-Forum und die Repartierung von Gebeinen und kolonialem Raubgut kommt der Diskurs allmählich in Gang." Auch würden die Erkenntnisse der postkolonialen Studien inzwischen vereinzelt in Lehrpläne sickern, so zum Beispiel im Englischunterricht. Insgesamt sei aber noch viel zu tun nicht zuletzt müssten sich die Mitglieder einer "weißen" Mehrheitsgesellschaft erst einmal umfassend bewusst machen, wie die postkoloniale Welt, in der wir leben, kulturell, politisch und wirtschaftlich aufgebaut ist.
Postkolonialen Forschern zufolge wirkt der europäische Kolonialismus nämlich nicht nur in den ökonomischen Machtbeziehungen von globalem Norden zu globalem Süden fort. Auch eurozentrische Klassifikationsschemata und postkoloniale Wahrnehmungsweisen seien nach wie vor überall vorhanden. "Was globale Entwicklung angeht, dominiert noch immer die Vorstellung, Europa sei der Motor der Geschichte", sagt Kerner. Oft wird der Kolonialismus in diesem Sinne zumindest untergründig mit positiven Attributen versehen; werden Landnahme, Ausbeutung und Raub zur zivilisatorischen Heilsbringung verklärt. Westliche Wirtschafts-, Kultur- und Politikmodelle erscheinen als Blaupause des Fortschritts, die regionalen Wissens- und Handlungssysteme werden als rück- und randständig gedacht...