Süddeutsche Zeitung, 15.10.2013
Das Wort „Gelassenheit“ hat einen wohligen Klang, es weckt die Hoffnung auf eine andere Art von Zeitgebrauch, fernab der zweckökonomischen Taktung im Hamsterrad. Hinter dem Buchtitel „Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt“ könnte sich esoterische Ratgeberliteratur für den spätmodernen Neurastheniker verbergen, der das Unbehagen in der Geschwindigkeitsgesellschaft mit Globuli und fernöstlichen Devotionalien therapiert; oder eine Fibel für den zum Laien-Buddhismus konvertierten Ex-Broker.
Tatsächlich hat der elegante Essay des Literaturwissenschaftlers Thomas Strässle mit dem esoterischen und dem populär-wissenschaftlichen Entschleunigungsdiskurs nichts zu tun. Aber auch wer eine fundierte soziologische Studie zum Thema erwartet, etwa im Stile von Hartmut Rosas Gegenwartsanalysen, die das Kranken des Subjekts am Flexibilitätsimperativ einer rasend gewordenen Gesellschaft zum Gegenstand haben, ist auf dem Holzweg.
Zwar stellt der Autor ein Repertoire von Haltungen vor, mit denen man „lassen“ können soll, damit sich der Klammergriff der belastenden Zustände schließlich löst und man somit „gelassen“ sein kann. Eigentlich handelt es sich bei Strässles Text aber um eine europäisch-anekdotische Begriffsgeschichte, die die Herkunft der Gelassenheit aufdeckt und in der die semantischen Konnotationen jener anderen Haltung zur Welt durch verschiedene Epochen und Philosophien hindurch verfolgt werden.
Strässle verortet den Ursprung des Begriffs in der christlichen Mystik, namentlich bei Meister Eckart. Die Gelassenheit bezeichnet demnach ein Konzept mystischer Teilhabe am Göttlichen, das sich durch ein aktives und ein passives Moment auszeichnet. In Meister Eckarts mittelhochdeutschem Vokabular ausgedrückt sind „gelâzen hân“ und „gelâzen sîn“ „zwei Seiten desselben Geschehens“. Wer wirklich „gelassen“ hat, löst sich von den innerweltlichen Verstrickungen, er „verlässt“ Welt und Selbst, um sich sodann Gott zu „überlassen“. Die Gelassenheit meint in diesem Sinn also eine Art freiwillige Selbstaufgabe.
Aber ist die Gelassenheit tatsächlich die richtige „Haltung zur Welt“? Ist es in Anbetracht von Elend und Ungerechtigkeit auf der Welt geboten, sich gelassen aus dieser zurück zu ziehen? Muss man, damit andere gelassen leben können, nicht vielmehr aufbegehren gegen unrechte Verhältnisse und somit ein Verhalten an den Tag legen, das die Gelassenheit als Haltung gerade hintertreibt?
Apathie und Teilnahmslosigkeit sind die dunklen Geschwister der Gelassenheit. Strässle beschreibt denn auch die Lethargie, in der das Ich sich abhandenkommt, sowie die Unempfindlichkeit gegenüber den Sorgen der Anderen als die beiden „Verfallserscheinungen der Gelassenheit“. Die Gelassenheit sei dabei erstmals gegen Ende des 18. Jahrhunderts und besonders im Sturm und Drang (zum Beispiel in Goethes Werther) in die Kritik geraten.
Nach der Darstellung jener Kritik, die das gefühlig oberflächliche (und zudem unpolitische) Wesen der Gelassenheit ans Licht bringt, schwenkt der Essay zurück, um im Folgenden den ehrenrührigen Angriff auf das vom Autor favorisierte Ethos zu konterkarieren. Mit Schopenhauer beschreibt Strässle „die Kunst der involvierten Distanz“, ein vorübergehendes Abtreten des vom dunklen Weltwillen Getriebenen von der Bühne seines eigenen Lebens. Mit der Anekdote des Quäkers, der den Raub durch einen Strauchdieb gelassen hinnimmt, illustriert er das ostentative „Egal“ zum Widerfahrenen als sanftmütige Strategie machtloser Machtausübung. Und mit Nietzsche wird die vornehme Gelassenheit des Freien Geistes vorgeführt, der alle normativen Barrieren überwunden und sein ureigenes Wertmaß jenseits von Gut und Böse etabliert hat. Strässle verstreut dabei in launigen Anekdoten und mit kurzen Schlaglichtern auf literatur,- religions- und philosophiegeschichtliche Positionen Splitter eines ethischen Programms, das dem Leser nicht mit dem Hammer angetragen, sondern sanft, vom Gegenstand her nahegebracht wird.
Den Bogen zur Gegenwart schlägt Strässle schließlich über Heidegger, der in den 50er-Jahren „Gelassenheit“ im Angesicht einer totalisierenden Technik forderte. Wer von den Dingen der technischen Welt lässt, wird auch von ihnen in Ruhe gelassen, eine Einsicht die es gerade heute, in Zeiten von Smart-Phone- und Facebook-Junkietum, verdient, neu thematisiert zu werden. Wobei es freilich obszön anmutet, dass jemand, der noch ein paar Jahre zuvor von seinem Lehrstuhl aus „gelassen“ der Entrechtung und Ermordung von Millionen zugesehen hatte, bald darauf schamlos seine schwarzwäldlerisch-besinnliche Distanz als gebotenen Modus des In-der-Welt-Seins postulierte. Das Unbehagen, das einen im Hinblick auf Heideggers Gelassenheitsdiskurs im Anschluss an die Shoa befällt, hätte Strässle zumindest erwähnen können. Überhaupt glaubt man an manchen Stellen des Buches, der Autor sei so vernarrt in die Haltung gelassener Distanz, dass ihm seinerseits die kritische Distanz zum Gegenstand abhandenkommt.
Wenn Strässle jedem den Rat gibt, seine „Aktivitäts-Passivitäts-Bilanzen neu zu berechnen“ und hierzu in einem letzten Satz auf die Handlungen und Haltungen verweist, die er in seinem Text vorgestellt hat, seinen Essay also als Baukasten fürs geruhsame Lebensmodell preist, so muss man die nach Gelassenheit schmachtenden, notorisch nervösen Gegenwartsmenschen leider vor einer Enttäuschung warnen. Weder Meister Eckart noch die Quäker und schon gar nicht Schopenhauer oder Nietzsche werden uns rotierende Nervenbündel vom Hamsterrad erlösen.