Der Tagesspiegel, 20.10.2020
Kontaktbeschränkung, Maskenpflicht, partielles Alkoholverbot – noch immer wird der richtige Umgang mit dem Virus politisch kontrovers diskutiert. Das Reaktionsspektrum in der Bevölkerung reicht dabei von einer bereitwilligen Affirmation jeder seuchenpolitischen Maßnahme über differenziertes Abwägen bis hin zur kategorischen Verweigerung. Wie genau aber urteilt und handelt man vernünftig? Was macht politische Urteilskraft aus?
Die sich als „Querdenker“ inszenierenden Corona-Demonstranten zum Beispiel reklamieren für sich selbst eine Urteilsfähigkeit, die der Mehrheit der Bevölkerung aus ihrer Sicht abgeht. Jene, die der gängigen Pandemie-Erzählung anhängen, machen sich nach Auffassung der „Skeptiker“ schuldig: Sie würden als vermeintlich gehirngewaschene „Schlafschafe“ blind einem oktroyierten Regelwerk entsprechen, anstatt sich auf den eigenen Verstand zu besinnen. „Niemand hat das Recht, zu gehorchen“ – dieses berühmte Diktum Hannah Arendts war auch auf Transparenten der Querfront zu lesen. Arendt formulierte diese ethische Maxime, während sie die Causa Adolf Eichmann untersuchte. Der maßgebliche Organisator des Holocaust hatte sich in seinem Gerichtsverfahren in Jerusalem damit verteidigt, lediglich Befehle befolgt zu haben. Aus der Unfähigkeit, zu denken und zu urteilen, erwuchs laut Hannah Arendt die Banalität des Bösen – personifiziert im vermeintlichen Schreibtischtäter und ersichtlichen „Hanswurst“ Adolf Eichmann.
Nun ist die auf wissenschaftsbasierten Urteilen gründende Adaption bestimmter Verhaltensregeln – wie Abstand halten, Maske tragen, Hände waschen – wohl das Gegenteil jener Gedankenlosigkeit, die die Gegner der bekannten Verhaltensetikette den Befürwortern der Regeln unterstellen. Zwar kommt es in der Coronakrise durchaus vor, dass Menschen auch epidemiologisch betrachtet sinnlose Regeln habitualisieren und gegenüber ihren Mitbürgerinnen unreflektiert auf deren Einhaltung pochen. Gewiss lösen sich mitunter bestimmte Verhaltensweisen von den sie vormals bedingenden Ursachen und verkommen so zum bloßen Zweck an sich selbst. Natürlich gibt es selbsternannte Hilfssheriffs, die Menschen bei der Polizei denunzieren, wenn sie gegen das aktuell heftig umstrittene Beherberbungsverbot verstoßen. Nimmt man indes die Haltungen der Bevölkerung im Corona-Diskurs genauer unter die Lupe, ist gesamtgesellschaftlich betrachtet ein weitgehend reflektierter Umgang mit den jeweiligen Maßnahmen zu beobachten – blinder Gehorsam, Blockwartdenken und Denunziation sind wohl eher Ausnahme als Regel.
Wo aber beweisen im Gegenteil die meist mit Verschwörungsmythen operierenden „Querdenker“ mangelhafte Formen von Urteilskraft? Was unterscheidet überhaupt diskussionswürdige von indiskutablen Positionen? Und welche Kriterien müssen Meinungen erfüllen, um in öffentlich geführten politischen Debatten einen Anspruch auf Gehör und auf Geltung zu haben?...