tip, 12.3.2014
Wenn man mit Mustafa und seiner Bordeaux-Dogge Tosun durch jenen Kiez spaziert, den kreative Neo-Berliner, vermutlich bei ein paar Tannenzäpfle, einst auf den unmöglichen Namen „Kreuzkölln“ tauften, wird man das Gefühl nicht los, sich in einer mehr oder weniger dörflichen Struktur zu bewegen. „Iyi aksamlar“ hier, „Merhaba“ dort, seltener auch „N’ Abend“ oder „Hallo“, Grußformeln in mindestens zwei Sprachen, ständig kreuzen vertraute Gesichter den Blick des 37-jährigen Berliners Mustafa B., der – eigentlich gelernter Metallbauer und Konstruktionstechniker – in der Pflügerstraße mit einem Freund aus Kindertagen einen Kiosk betreibt. Er kennt die meisten hier, mit vielen ist er aufgewachsen, damals in den 80er- und 90er-Jahren, als der gemeine Hipster um den kernigen Grenzbezirk Neukölln noch einen weiten Bogen machte und sich die meisten Deutschen, wie Mustafa sagt, „noch nicht einmal trauten, hier durchzulaufen, geschweige denn hier zu wohnen“.
Doch seit die Gegend zum Abenteuerspielplatz der internationalen Bohиme avanciert ist, geht die Zahl der überwiegend türkischstämmigen „Ureinwohner“, denen Mustafa auf seinen Streifzügen durch den Kiez begegnet, stetig zurück. Mehr und mehr autochthone Neuköllner sind abgewandert, nach Britz oder Staaken, wurden ob der steigenden Mieten in die gentrifizierungs-unverdächtigen Randzonen, in die Reservate der Metropole verdrängt.
Davon, dass die Verdrängung nach Britz nicht das Schlimmste ist, kann Mustafa ein Lied singen. Es ist das Lied seines jüngeren Bruders, der, als Mustafa längst seine eigene Bude im Kiez hatte, noch mit dem Vater in der alten Wohnung in der Nansenstraße lebte. Solange, bis der Vater die Miete nicht mehr zahlen konnte und nach Izmir zurückging, von wo aus er in den 70ern aufgebrochen war, um sich in der Bundesrepublik als Gastarbeiter zu verdingen.
Der Bruder bezog Hartz IV, in Neukölln gab es keine bezahlbare Wohnung mehr, die Treberhilfe vermittelte ihm eine Bleibe in Hellersdorf. „Jetzt stell dir das vor“, sagt Mustafa, „einer wie er? Hellersdorf? Habt ihr ’ne Macke? Mein Bruder ist der dunkle Typ, nicht so wie ich, den erkennen die Nazis schon von Weitem!“ Mustafa hat mit seinen Freunden gewettet: „In einem halben Jahr ist mein Bruder in der Türkei.“ Am Ende sind es nur drei Monate geworden.
Dagegen, dass sich die Gegend verändert – vor sieben, acht Jahren sei das losgegangen –, hat Mustafa erst mal nichts einzuwenden: „Jeder kann ja da wohnen, wo er möchte. Ich fühl’ mich als Berliner auch geschmeichelt, dass es hier alle so geil finden. Wobei ich immer nicht verstehe: Wat is’ hier hip, Alter? Wat is’ hier toll? Ich kenn’s ja nicht anders.“ Der Hype beschert ihm als Kioskbetreiber freilich auch Vorteile. Viele Neu-Neuköllner seien kaufkräftig, sein Kundenstamm habe sich enorm erweitert. Früher gab es in der Ecke rund um die Pflügerstraße überwiegend Eckkneipen und Leerstand.
Dass es bunter und lebendiger geworden ist, findet Mustafa auch gut: „Wenn du ein offener Mensch bist, kannst du hier die verschiedensten Leute kennenlernen. Vor allem, was Frauen angeht, hast du jetzt ganz andere Möglichkeiten. Früher mussten wir in Sachen Mädels immer in andere Bezirke ausweichen.“ Aber im Sommer sei es auch manchmal unerträglich voll hier – und lärmig, da würden – „diese Schönwetterneuköllner“ wie Pilze aus dem Boden sprießen. Die lungerten dann überall rum, versperrten den Weg, gebärdeten sich zuweilen unverschämt, schlössen an den unmöglichsten Stellen ihre Fahrräder an.
Normalerweise geht Mustafa immer dazwischen, wenn er mit ansehen muss, wie Neu-Neuköllner von jüngeren Alt-Neuköllnern angepöbelt werden. Aber neulich kam ihm der Gedanke, dass er so etwas auch einfach mal geschehen lassen müsse. „Alle Welt spricht ja von Integration“, lacht Mustafa, „vielleicht sollten sich die Leute, die nach Neukölln ziehen, auch ein bisschen an die Gepflogenheiten hier gewöhnen.“
Insgesamt ist Mustafas Einstellung zum Wandel der Gegend ambivalent. Mit den Menschen komme er gut klar, nur leider würden viele, die sich hier niederließen, ungewollt die Mieten in die Höhe treiben. „Wenn die Leute, die die Gegend ausmachen, sich die Gegend nicht mehr leisten können, dann werden die Zugezogenen sich irgendwann wundern, dass es hier genauso langweilig ist wie an dem Ort, von dem sie losgezogen sind.“
Nie hätte Mustafa gedacht, dass Neukölln sich derart verändern würde. Wenn es so bleibt, wie es ist, geht er mit der Entwicklung d’accord. Wenn es aber noch voller, noch hipper, noch teurer werden und er bald der letzte Türke im Kiez sein sollte, dann wird auch er seinem Vater in die Türkei folgen. Denn in Deutschland außerhalb von Neukölln zu wohnen, kann sich Mustafa nur schwer vorstellen. Er fände es schade, wenn er aus seiner alten Gegend wegmüsste. Aber es gäbe da noch „’ne Alternative an der Ägäisküste“, sagt Mustafa: „Wenn dich beim Aufwachen ein Meerblick erwartet, dann kannst du keine Angst haben.“