Philosophie Magazin / 19.12.2025
Seit Jahren wird das Holocaustgedenken auf breiter Front attackiert, die Spezifika der Judenvernichtung gehen zunehmend in einer verallgemeinerten Gewaltgeschichte verloren. Warum die Shoah nach wie vor ein präzedenzloses Menschheitsverbrechen ist, wieso diese Erkenntnis bei rechten und bei linken Akteuren oft Abwehrreaktionen hervorruft, und was die zentralen Motive des zeitgenössischen Geschichts-Revisionismus sind. Eine Analyse in zwei Teilen.
Von Christoph David Piorkowski
„Nie wieder“ soll zum einen die Maxime allen Handelns, den Fluchtpunkt von Denken und Erziehung bezeichnen – so forderte Adorno im Anschluss an Auschwitz. Zum anderen war der Ausdruck stets auch phrasenhaftes Schmuckwerk und häufig bloß terminologische Hülse der ostentativ „wiedergutgewordenen“ Deutschen.
Das „Was“ des „Nie wieder“ blieb nicht selten unbestimmt; hatte irgendwas mit Autoritarismus zu tun. Natürlich fängt „Nie wieder“ nicht bei Birkenau an. Man will auch nie wieder rassistische Diskriminierung, Angriffskrieg oder Geheimpolizei – und doch hat Adornos Imperativ, demnach Denken und Handeln so gestaltet werden müssen, dass Auschwitz nicht noch einmal geschehe, neben allgemeineren Implikationen antifaschistischer Politologie auch eine spezifische Stoßrichtung inne: Nämlich nie wieder Vernichtungsantisemitismus, nie wieder hasserfüllte Massenpsychose, die „den Juden“ als Geißel der Völker missdeutet und eine Befreiung der Menschheit vom Bösen geistig und konkret an dessen Auslöschung koppelt.
Wer „Nie wieder“ sagt, bezieht sich irgendwie auf die Shoah – doch das Wissen um sie und die Erkenntnis derselben klafften und klaffen nicht selten auseinander. Wenn man weiß, dass „es“ war, und dass „es“ wieder geschehen kann, hat man noch nicht notwendig erkannt, was „es“ ist. Nicht moralisch, jedoch in analytischer Hinsicht, ist Antisemitismus weder mit Rassismus noch mit herkömmlichen Xenophobien identisch, auch wenn es hier und da Schnittmengen gibt. Die Shoah nun als Fazit des Antisemitismus hebt sich von anderen Genoziden ab, ist ein präzedenzloses Menschheitsverbrechen, was bedeutet, dass es einige Merkmale gibt (und daran anschließend einige Schlussfolgerungen), die sie von ihr ähnlichen Verbrechen unterscheidet – und nicht, dass sie jenseits der Geschichte geschah, oder dass es irgendeine Form von Hierarchie unter den Opfern diverser Kollektivmorde gebe.
In den Nachkriegsjahrzehnten kam diese Einsicht immer wieder auf und ging immer wieder unter, wurde stets aufs Neue aktiv untergraben und verankerte sich seit den 90er-Jahren dann in zahlreichen Bezirken des globalen Bewusstseins – was dialektischerweise dazu beitrug, die Erkenntnis der Shoah auch wieder stark zu hintertreiben, und überlieferte Ressentiments zu befeuern. Besagte Befassungs- und Erkenntniskonjunkturen beleuchtet unter anderem der Historiker und Politikwissenschaftler Jan Gerber in seinem neuen Buch Das Verschwinden des Holocaust. Zum Wandel der Erinnerungskultur, in dem die Rezeptionsgeschichte der Shoah und die historischen Bedingungen ihrer Erkenntnis luzide und gewissenhaft nachgezeichnet werden.
Seit mehreren Jahren und nun noch einmal verstärkt seit dem 7. Oktober 2023 droht jene durch Dekaden an intensiver Forschung und stichhaltiges Denken validierte Erkenntnis von der qualitativen Spezifik der Shoah wieder auf breiter Front verloren zu gehen – oder besser, sie wird revisionistisch untergraben. Urteilskraft und Differenzierungsvermögen scheinen heute vielfach im Verschwinden begriffen, im postmodernen Nebel droht die Judenvernichtung das ihr eigentümliche Gepräge zu verlieren, in einer Ära „allgemeiner Barbarei“ zu verschwinden, wie bereits Jean Améry konstatierte.
Was ist das Präzedenzlose dieses Verbrechens? Unter welchen Bedingungen wird es erkannt? Und warum bringt die Erkenntnis desselben bei vielen aversive Reaktionen hervor? Wer führt die Feder bei der Großoffensive gegen das Eingedenken der Shoah? Und schließlich, was sind die zentralen Motive des zeitgenössischen Revisionismus? Nicht zuletzt wird die wohlfeile Inflationierung, ja Resignifizierung der „Nie-wieder-Parole“ heute auch vielfach von denen betrieben, die raunend oder gar dezidiert wünschen, es möge doch endlich „wieder“ geschehen – auch wenn das Deckwort für den üblichen Vernichtungsadressaten in der Regel „Zionismus“ oder „Israel“ lautet.
Ein präzedenzloses Menschheitsverbrechen
Wer über Verbrechen an Massen reflektiert, die ferner von Massen begangen worden sind (wie sich Hannah Arendt einmal ausgedrückt hat), wird auf Ergebnisse und Durchführung achten, doch auch die Motive der Täter bedenken und letztlich das Geflecht aus Bedingungen erforschen, das die Motive virulent werden ließ. Grob gesprochen liegt die Präzedenzlosigkeit des landläufig als Holocaust bezeichneten Geschehens dabei nicht in der ungeheuren Masse der Toten und auch nicht im fabrikhaften Tötungsgeschehen, (zumal sich der Hauptakt der Judenvernichtung, so etwa in Sobibor, Belsec und Treblinka jenseits des „Industriellen“ vollzog und vielfach dem Muster der Handarbeit folgte, ganz zu schweigen vom „Holocaust by Bullets“).
Was Dan Diner „Zivilisationsbruch“ genannt hat, und Yehuda Bauer „Präzedenzlosigkeit“, muss richtig verstanden zuvörderst bedeuten, dass ein Mechanismus außer Kraft gesetzt wurde, der dem zivilisatorischen Projekt der Moderne bis dato als eherne Leitlinie diente – nämlich die instrumentelle Vernunft. Ihr gleichsam in doppelter Hinsicht ent-sprungen, geschah die Shoah auf dem Boden der Moderne, als falscher, wahnhafter Bewältigungsexzess einer keineswegs nur, aber sicherlich auch durch die kapitalistische Totalität bedingten sozialen und mentalen Krise; mit den Werkzeugen instrumenteller Vernunft – doch sprengte sie in ihrem Ausrottungswahn auch immer wieder klassische Nützlichkeitskalküle, jede utilitaristische Rationalität.
Der dialektische Kipppunkt der Judenvernichtung ist anders als etwa der des Kolonialismus eben nicht vornehmlich darin zu suchen, dass eine instrumentelle Vernunft ihrerseits „in Mythos zurückgeschlagen“ ist, dergestalt, dass ihre Beherrschungsmaxime zum leitenden Diktum des Okzidents wurde. Die Dialektik liegt vielmehr darin begründet, dass auf dem Boden der modernen Gesellschaft ein radikaler Antimodernismus gedieh, eine wahnhafte Verschwörungsideologie in Form des Erlösungsantisemitismus, der „den Juden“ zum transhistorischen Feind, zur Gegenrasse der Menschheit erklärte, zum Puppenspieler auf der hinteren Bühne, weil man die vordere schlicht nicht begriff, geschweige denn sie selbstbestimmt mitgestalten konnte. Dieses Trugbild band die Fortdauer der menschlichen Gattung an die Vernichtung des Judentums als solchem, und mithin sämtlicher Jüdinnen und Juden, derer die Nazis zwanghaft versuchten, auf dem Planeten habhaft zu werden. Und dies erwiesenermaßen auch dann, wenn es den eigenen Untergang bedingte. So grausam und exzessiv sich die kolonialen Genozide auch ausgenommen haben, standen sie, wie es Jan Gerber formuliert, noch in „einem Restzusammenhang mit dem Streben nach Macht, Einfluss, Absatzmärkten, Prestigezuwachs oder (…) Lustgewinn.“
Zwar war die Shoah auch ein riesiger Raub und ferner auch ein Tummelplatz sadistischer Affekte. Letztere aber wurden häufig gebremst, während Enteignung und Sklavenverwertung kaum die Kosten des Lageruniversums kompensierten. Die überwältigende Mehrheit der ermordeten Juden kam aus ärmlichen Verhältnissen und wurde eben nicht über den ausbeutenden Umweg knechtender Arbeit, sondern prompt bei der Ankunft in den Lagern vernichtet – oder auf irgendwelchen Äckern erschossen. Dabei war es für die Nazis zudem ungleich relevanter, jüdische Kleinkinder, Frauen und Greise noch von den entlegensten griechischen Inseln nach Osteuropa in die Gaskammern zu karren, als die Wehrmacht mit dem nötigen Nachschub zu versorgen; auch wurden kriegsrelevante Fabriken geschlossen, um die dort arbeitenden Juden zu vernichten. Wie Gerber und zahlreiche andere Forscher zeigen, hatte die Vernichtung der Jüdinnen und Juden gegenüber jedem militärischen Erfolg eine unhintergehbare Priorität.
Im kolonialen Kosmos kam die Ausbeutung zuerst, der massenhafte Mord folgte meistens immer dann, wenn sich die Rassifizierten der Enteignung widersetzten, die „Maschinerie“ einmal nicht funktionierte. Im Holocaust aber war das Mordwerk primär, alles andere war hier von minderer Bedeutung – Bereicherung, Lust, gar das eigene Überleben.
Antisemitismus und Rassismus
Dass die Shoah demnach motivational eine weitgehend andere Grundlage hat als sämtliche Massaker im kolonialen Kontext, hängt indes nicht zuletzt damit zusammen, dass die Hassformen Antisemitismus und Rassismus genealogisch und sozialpsychologisch differieren; dass sie mit dem christlichen Antijudaismus und den imperialistischen Manövern der Neuzeit durch verschiedene Entwicklungsgeschichten geprägt sind und divergierende Funktionen aufweisen, das heißt triebdynamisch andere Bedürfnisse erfüllen (was nicht heißt, dass sie normativ zu unterscheiden wären). So hat das religionsgeschichtliche Verhältnis vom Christentum zu seiner Mutterreligion dazu geführt, dass das antijüdische Ressentiment im Vergleich zum Rassismus eine komplexere Struktur aufweist. Antisemiten definieren ihre Hassobjekte als schwach und übermächtig zugleich: die Juden werden zwar als Schädlinge gedeutet, doch auch als heimliche Herrscher der Welt. Wo die rassistische Projektion das „rassifizierte Subjekt“ als radikal minderwertig konzipiert, als „Arbeitstier“ und „geistlose Natur“ imaginiert, erscheint „der Jude“ als dämonischer Herrscher, als begründendes Prinzip der bedrohlichen Moderne, als das gleichsam konkretisierte Abstrakte der anonymen Herrschaft des Kapitalismus, als Zersetzer der vermeintlich natürlichen Ordnung, als Urgrund und Prinzip alles Bösen auf der Welt – und somit nicht zu akzeptierende Form der Existenz. Wo etwa schwarze Menschen im rassistischen Weltbild auf der Erde zumindest einen Platz haben dürfen, solange sie nicht wagen, diesen Platz zu verlassen, wo sie also ferner noch „benutzt“ werden dürfen, zielt Antisemitismus in letzter Konsequenz immer auf die endgültige Eliminierung eines als teuflisch vermeinten Prinzips (das in postnationalsozialistischen Zeiten meist in Gestalt des Staates Israel erscheint).
Der wahnhafte Erlösungsantisemitismus als Glutkern der Naziideologie zog so ein gigantisches Vernichtungsprogramm unvergleichlichen Ausmaßes nach sich, in dem noch der letzte jüdische Säugling vom Antlitz der Erde getilgt werden musste. Die völlige Auslöschung der Jüdinnen und Juden wurde dabei in der Forschung oft als Selbstzweck bezeichnet – im Gegensatz zu territorial-verdrängenden, ökonomistisch-ausbeuterischen und strafend-willensbrechenden Motiven, die den kolonialen Genoziden eigentümlich waren. Dabei trifft es die Bezeichnung „Selbstzweck“ nicht ganz, wie der Philosoph Ingo Elbe resümiert. In seinem wegweisenden Werk Antisemitismus und Postkoloniale Theorie macht Elbe deutlich, dass der eigentliche Zweck einer territorial entgrenzten Vernichtung in der kollektiv herbeihalluzinierten Befreiung der Menschheit vom sie vermeintlich geißelnden Übel bestand. Die irrationale, ja eschatologische Befreiungs- und Erlösungsideologie wurde mächtig als psychische Bearbeitungsform eines Ohnmacht generierenden gesellschaftlichen Rahmens. Die eigentlichen Quellen des gesellschaftlichen Unbehagens blieben, wie Elbe schreibt, unangetastet. Der völkische Antikapitalismus ließ das Kapitalverhältnis bestehen, und personifizierte die abstrakte Seite des Kapitalismus im „ewigen Juden“.
So folgte der mythische Irrationalismus, der „den Juden“ zum Lenker der Geldwirtschaft machte, sowie zu einem schädlichen Zersetzer aller Völker – dessen Auslöschung Endpunkt der Heilsgeschichte sei – einer Art Binnenrationalität. Dem kollektiven Wahn nämlich schien die Vernichtung das notwendige Mittel zum Zweck der Erlösung, und wurde dann auch zweckrational praktiziert.
Der Unterschied ist gleichsam einer ums Ganze: Während sich die irrationale Ideologie des Antisemitismus auf „instrumentell-vernünftige“ Mittel wie eine ausgeklügelte Bürokratie stützte, rekurrierte das „instrumentell-vernünftige“ Ausbeutungsprojekt des Kolonialismus in gleichsam umgekehrter Richtung auf die irrationale Ideologie des Rassismus. Zugespitzt formuliert: Wo der Rassismus das „Instrument“ der Ausbeutung war, war die Vernichtung das „Instrument“ des Antisemitismus. Wo der rassistische Imperialismus der Logik des Kapitalismus entsprach, gedieh das System des Nationalsozialismus zwar auf dem Boden desselben, doch wuchs aus dem es bedingenden Rahmen der liberalen Bürgergesellschaft heraus, hatte ein schlechterdings eigenes Gepräge.
Wer andere Verbrechen mit dem Holocaust gleichsetzt, subtrahiert den ideologischen Irrationalismus des Erlösungs- und Vernichtungsantisemitismus, verkennt die präzedenzlose Motivation und daraus abgeleitet eben auch die singuläre Praxis, welche die Shoah von anderen Genoziden trennt. Dieses Urteil folgt keiner Sakralisierung, hat nichts mit „Provinzialismus“ zu tun, wie uninformierte Kritikerinnen der Singularitätsthese immer wieder meinen, oder mit vernageltem Eurozentrismus – es gerinnt aus analytischer Differenzierung.
Erkenntniskonjunkturen
In den letzten 80 Jahren kam besagte Erkenntnis, oder wenigstens eine Art Ahnung davon, dass sich das an den Juden verübte Verbrechen, was Motive, Durchführung und Ausmaß betrifft, von bis dato bekannter Gewalt unterschied, immer wieder auf und ging wieder unter – und zwar sowohl im Gedächtnis ganzer Gesellschaften als auch bei einzelnen Intellektuellen. So zeichnet Gerber auch eindrücklich nach, dass etwa Hannah Arendt und ihr (Ex-)Mann Günther Anders einen mäandernden Denkweg beschritten: Die modernekritische Schablonisierung, die Auschwitz als Ausgeburt der westlichen Moderne oder im Bann einer Technikkritik (welche ausgerechnet vom Antisemiten und Arendt-Lehrer Heidegger angeleitet war) als Ausdruck von Seinsvergessenheit begriff, wurde durch die zeitweise glimmende Erkenntnis von der Präzedenzlosigkeit kontrastiert. Ohne, dass es Arendt oder Anders gelang, das Spezifische des antisemitischen Wahns auf den Begriff und die Shoah so ins Begreifen zu kriegen.
Selbst Adorno und Horkheimer hockten bis weit in die 40er-Jahre hinein im Dunst ihrer eigens formulierten Idee der modernetypisch instrumentellen Vernunft als handlungsleitendem Prinzip des NS – der dezidiert antisemitische Kern der nationalsozialistischen Weltsicht kam den beiden eher schlingernd zu Bewusstsein und wird noch stärker in der Minima Moralia als in der Dialektik der Aufklärung deutlich; zudem expliziter in privaten Dokumenten als in den eigentlichen Werken formuliert (auch bei Marcuse gibt es diese Differenz). So konterkarierte der Antisemitismus als spezifisches Movens der Judenvernichtung die klassischen Dogmen der Arbeiterbewegung vom kapitalistischen Kern des Faschismus, der sich viele linke Denker doch zugehörig fühlten.
Insgesamt indessen, so zeigt es Jan Gerber, ging die mit den Nürnberger Prozessen aufschimmernde Ahnung von der Eigentümlichkeit der Shoah mit Beginn des Kalten Krieges gleich wieder verloren. Und zwar nicht nur im Westen und im Osten von Deutschland, sondern auch im Westen und im Osten überhaupt. „Aktive“ und „passive“ Gründe der Verdrängung scheinen sich dabei ineinander zu verschlingen.
Zwar kommt freilich stante pede in den beiden deutschen Teilstaaten massive kollektive Schuldverdrängung auf. In der BRD versteckt man seine schuldhafte Verstrickung hinter Wirtschaftswunderzauber und gestärkten Gardinen, in der DDR erklärt man die Verbrechen der Nazis als durch den Klassenfeind verantwortete (und folgt so der klassischen Dimitroff-These, die den „deutschen Faschismus“ als entfesselten Typus des hergebrachten Kapitalismus verstand), die Mörder wohnten jenseits des Eisernen Vorhangs, man selbst sei schon immer sozialistisch gewesen. Doch nicht nur in den beiden Deutschlands und in Österreich ist man nun hemmungslos der Zukunft zugewandt und will von den Schrecknissen des Gestern nichts wissen. Der westliche sowie der östliche Block befinden sich ab Anfang der 50er-Jahre in einem radikal ambivalenten Bewusstsein zwischen universalistischem Fortschrittsoptimismus und einer nuklearen Nahtoderwartung. Die kollektive Wahrnehmung ist von dieser Spannung der Frühphase des Kalten Krieges völlig okkupiert; die Vernichtung der Juden ist in dieser Ära kaum ins allgemeine Bewusstsein gedrungen.
Das ändert sich kurz Anfang der 60er-Jahre, konkret mit den Frankfurter Auschwitzprozessen und dem Jerusalemer Eichmann-Prozess. Schnell aber kommt die Spezifik der Shoah im Diskurs über die Dekolonisierung abhanden, die sich in den 50ern und 60ern vollzieht und den Großteil der Wahrnehmungsressourcen okkupiert. Ab Anfang / Mitte der 70er-Jahre ist dann ein weltweiter Bewusstseinswandel zu verzeichnen. Bedingt durch die erste Ölpreiskrise, den Zusammenbruch des Handelssystems von „Bretton Woods“ und die mithin gewahrten „Grenzen des Wachstums“, geht der Fortschrittsoptimismus in West und Ost verloren, der Fordismus und der Sozialismus scheinen zu versagen, das universalistische Pathos verebbt, das Ende der großen Erzählungen hebt an. (Zugleich lebt man nicht mehr in ständiger Angst vor einer atomaren Kriegseskalation.)
Auch endet, wie Gerber eindrücklich darlegt, auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs das Zeitalter wegweisender Heldengeschichten. War das „Opfer“ bislang eine verachtete Figur, avanciert es nun fast zu einem Rollenmodell. Die Renaissance der Menschenrechte beginnt, zugleich fängt man an, sich stärker dem Leid partikularer Gruppen zu widmen, was bis dato nicht selten als Felonie am Ideal einer „einzigen Menschheit“ erschien.
Hatte man bisher, wenn überhaupt, an den Aufstand im Warschauer Ghetto erinnert, da er sich anders als die Vernichtung in klassische Erzählformen einpassen ließ, bedingt die Verabschiedung von „Zukunft“ und „Helden“ eine Wendung hin zu „Vergangenheit“ und „Opfern“. Der Holocaust wird nun prominent rezipiert. Zugleich beginnen diverse Nationen (und auch andere Polit-Kollektive) ihre Gründungsmythen stärker katastrophisch zu deuten. Der Holocaust gilt zwar oft als Chiffre für das Böse, wird aber meistens bloß dazu verwendet, das eigene Leid in seiner Sprache auszudrücken. Man rückt andere Verbrechen stets an ihn heran, wodurch man implizit seine Besonderheit bekennt, doch diese auch gleich wieder relativiert.
Die Aufmerksamkeit, die seit den 70er-Jahren (verstärkt auch durch die Fernsehserie „Holocaust“) und dann nochmals potenziert in den 90er-Jahren mit der Globalisierung des Gedenkens erstarkte, trug dialektischerweise dazu bei, die Erkenntnis der Shoah zu konterkarieren, und überlieferte Ressentiments zu befeuern. Und zwar deshalb, weil sich ein durch den Bedeutungsgewinn der Sozialfigur des Opfers vermittelter „Neid“ auf die präzedenzlose Judenvernichtung und die durch diese evozierte narzisstische Kränkung mancher selbsternannter Opferkonkurrenten, mit antijudaistischen Stereotypen vom jüdischen Exzeptionalismus verband. Der (mitunter implizite) Tenor der Kritik: Partikularistisch und „verstockt“ wie ehedem, stellen „die Juden“ nun erneut ihre Besonderheit aus, dabei haben „wir“ doch mindestens genauso gelitten. Man verargt ihnen, dass „sie vom absolut Bösen zum absolut Bösen gebrandmarkt“ worden sind, und, wie Adorno und Horkheimer meinten, „in der Tat (als) das auserwählte Volk“ herhalten mussten. Der Hass, den die Deutschen in Vernichtung überführten, richtet sich an eben dieser immer wieder auf. Zum Antisemitismus trotz der Vernichtung gesellt sich so ein Antisemitismus ihretwegen.
Irrungen und Wirrungen des Postkolonialismus
Die Shoah und die Erkenntnis ihrer Spezifik haben immer wieder Abwehrreaktionen evoziert. Wie Jan Gerber in Das Verschwinden des Holocaust treffend formuliert, gehen „von der Vernichtung der europäischen Juden so viele Kränkungen für den Verstand aus, dass er sich der Reflexion auf das Verbrechen nur allzu gern entzieht.“ Dabei spielten etwa im Rahmen des Ersten Historikerstreits Mitte / Ende der 80er-Jahre vor allem schuldrelativierende Motive eine Rolle. Rechtsnationalen Akteuren wie Ernst Nolte, der die Gaskammern explizit zur deutschen Reaktion auf die „asiatische Tat“ der Gulags verdrehte, ging es vornehmlich darum, jene Schuld abzutun, die ein ungebrochen nationales Pathos bedrohte. Die NS-Relativierung der Rechten von heute – von AfD bis Identitärer Bewegung – ist abgesehen von genuinem Antisemitismus ihrerseits vom starken Bedürfnis geprägt, sich einer ungetrübten Feier der Deutschheit zu widmen.
Dabei hat es im Rahmen der Erinnerungskonflikte schon früh auch eine andere Frontstellung gegeben. Stellten Linke im Kontext des Historikerstreits die Denker des Camps der Singularität, die von rechter Seite aufs Korn genommen wurde, sind es nicht erst seit dem „Zweiten Historikerstreit“ auch sich links verortende Akteure gewesen, die die Präzedenzlosigkeit der Shoah in ihrem Theorie-Aktivismus bestritten. 1978, das Jahr in dem zig Millionen Menschen die wegweisende Fernsehserie „Holocaust“ sehen, und in der Bundesrepublik sowie in anderen Ländern eine breite Rezeption der Verbrechen beginnt, ist auch das Jahr der Erstpublikation des Gründungsmanifests des Postkolonialismus, Edward Saids Text Orientalismus. Dem theoretischen Programm wird kurze Zeit später die Kampfschrift The Question of Palestine folgen. Die anhebende Sehnsucht nach einer Geschichte, in der man als das absolute Opfer erscheint (dessen Platz aufgrund der Spezifik der Shoah eben der beneidete Jude innehat), wird vor allem in der Denkschule des Postkolonialismus zu historiographischen Verzerrungen beitragen, da es hier mehr um ideologische Selbstvergewisserung und histo-politische Mythen geht (die freilich auch Wahrheitselemente enthalten) als um redliche Wissenschaftlichkeit (die ohnehin oft als Herrschaftstool des Westens geframed wird).
Die Obsession gegenüber dem Jüdischen Staat und die Relativierung jenes Verbrechens, das die Gründung dieses Staates unverhandelbar machte, (was hilfreich ist, um diesen Staat zu delegitimieren) begleiten diese Denkschule seit ihrer Entstehung.
Auch wenn die postkoloniale Theorie dabei geholfen hat, die kolonialen Gräueltaten westlicher Länder in deren Gesellschaften bewusster zu machen – was gedenkkulturell zunächst ein großer Verdienst ist – kam und kommt sie bei diesem Unterfangen leider nicht ohne Erinnerungsabwehr des eliminatorischen Antisemitismus, und dessen Konsequenz, des Holocaust, aus.
Dabei vollzieht sich die Holocaust-Relativierung nicht immer so obszön wie 1987, als der NS-Mörder und frühere Gestapo-Chef Lyons, Klaus Barbie, von Maitre Jacques Vergès verteidigt wurde. Der anti-imperialistische Anwalt nutzte den Prozess für eine Anklage des Westens, die mit Blick auf die französischen Massaker in Algerien und zahllose andere koloniale Verbrechen zwar grundsätzlich eine Berechtigung hatte, doch in einer aktiven links-rechten Querfront den Holocaust zur bloßen Bagatelle erklärte, dabei nicht zuletzt Israel dämonisierte und im Freispruch für den „Schlächter von Lyon“ gipfelte.
Die Frage, die sich seither immer wieder stellt, etwa im Rahmen der sogenannten Mbembe-Debatte, im Kontext des „Zweiten Historikerstreits“, in der Diskussion um den Judenhass auf der Documenta oder in jener zu Israels Feldzug in Gaza, ist die, warum die Thematisierung von Leid nicht ohne Vergleiche zum Holocaust auskommt. Nun gut, die Shoah ist die Chiffre des Grauens, die Holocaustisierung maximiert den Opferstatus, warum auf diesen keine grellen Scheinwerfer lenken? Doch geht es hier um mehr als überzogene PR.
Denn die schlichtweg faktisch falsche Behauptung, die die postkolonialen Ideologen ins Feld führen, besagt, dass das ständige Gedenken an die Juden alle weiteren Formen des Gedenkens blockiert. Koloniale Genozide würden im Westen, insbesondere aber in Deutschland (so meinen etwa Dirk Moses, Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer) durch eine Fixierung auf den Holocaust verdrängt. Das Vorurteil vom jüdischen Partikularismus scheint in den Debatten dabei immer wieder auf, (so etwa beim Kameruner Denker Achille Mbembe, dessen Werk vom unübersehbaren Signum des christlichen Antijudaismus geprägt ist) und wird mit Blick auf Deutschland und die Holocaustforschung durch den Vorwurf des „Provinzialismus“ ergänzt, also der vermeintlich perspektivischen Verengung.
Nun ist der erste Vorwurf des Partikularismus aus einer Reihe von Gründen unlauter. Wie Michael Rothberg immer wieder selbst bekennt, hat die Globalisierung des Holocaustgedenkens erst den Boden für weiteres Gedenken bereitet. Dass andere Verfolgte des Nazi-Regimes, wie Sinti und Roma oder Homosexuelle sowie die Nachfahren von Geschädigten des Kolonialismus, heute hörbar ihre Stimme erheben, fußt nicht zuletzt auf den hart erkämpften Errungenschaften des Holocaustgedenkens, zumal sich insbesondere Jüdinnen und Juden auch für andere Gedenkformen stark gemacht haben. Der klassisch antijudaistische Vorwurf jüdischer Besonderung geht in die Irre. Zwar gab und gibt es – wie im Falle der Shoah – renitente Blockaden gegen ein Gedenken sowie Reparationen an Herero und Nama. Auch kommt es hier, wie unter anderem Steffen Klägers gezeigt hat, mitunter zu instrumentellen Verweisen auf die Singularität der Shoah – etwa als der Sonderbeauftragte für die Verhandlungen in Namibia, Ruprecht Polenz, eine vergleichbare Verantwortung für den deutschen Genozid an den beiden afrikanischen Volksgruppen vor einigen Jahren mit Verweis auf den Judenmord relativierte. Per se ist der Holocaust politisierbar. Wenn Deutschland sein koloniales Erbe nicht bekennt, ist das in jedem Fall hart zu verurteilen. Allerdings liegt es wohl eher am Rassismus, oder auch bloß an allgemeiner Ignoranz, als daran, wie Moses in verschwörungsideologisch-antisemitischer Manier insinuiert, dass irgendwelche ominösen jüdischen Eliten eifersüchtig das Gedenken überwachten.
Dass der Holocaust in der offiziellen deutschen Erinnerungskultur (die vielfach zu einem routinierten Erinnerungstheater erstarrt ist, auf dem die wiedergutgewordenen Deutschen ihre kollektive Läuterung inszenieren) tatsächlich eine privilegierte Stellung einnimmt, die über viele Jahre gegen zahllose Widerstände in Politik und Gesellschaft erstritten worden ist, nimmt anderen Gedenken grundsätzlich nichts weg. Auch ist diese Stellung insofern legitim, als der Antisemitismus als Kern des NS ein geplantes Menschenvernichtungsprogramm unvergleichlichen Ausmaßes bedingte, in das weiteste Teile der deutschen Bevölkerung als Mörder, Helfershelfer und Gaffer, sowie als Profiteure integriert gewesen sind. Es gibt wohl kaum eine Familie in Deutschland ohne antisemitische Tätervergangenheit.
Wie unter anderem die Arbeiten des Berliner Antisemitismusforschers Samuel Salzborn gezeigt haben, bescheinigt sich ein Großteil der Deutschen mit Blick auf die eigene Verwandtschaft nach wie vor „kollektive Unschuld“. Der Fauxpas von Akteuren wie Moses und Rothberg, die monieren, „die Deutschen“ seien einem sakralisierten Holocaustfetisch und einer blinden Israelsolidarität erlegen, besteht darin, die Befunde der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung nicht zur Kenntnis zu nehmen – ihr Verdikt über „die Deutschen“ ist ein induktiver Fehlschluss. So offenbart die Umfrageforschung eine im Gegensatz zur inszenierten Wiedergutwerdung mindestens ebenso häufig vorkommende Psychostrategie: Schuldprojektion, Shoah-Relativierung, Schlussstrichmentalität und delegitimierende „Israelkritik“ sind in Deutschland eine ubiquitäre Praxis. Das ist vor dem jüngsten Krieg in Gaza so gewesen und hat sich inzwischen noch einmal verschärft. Eher als zur blinden Solidarität – das zeigen alle relevanten soziologischen Studien – neigen viele Deutsche dazu, den Nachfahren der Shoah-Überlebenden moralische Vorhaltungen zu machen – als hätten die Juden doch ob ihrer Verfolgung gefälligst immer schön anständig zu sein. Gerade für die Nachfahren der Täternation ist es psychologisch schließlich hochattraktiv, dass die Shoah als ein Verbrechen unter vielen erscheint, und sie auch nicht mehr zu verantworten haben, als Franzosen, Engländer, Spanier und Belgier, als der allgemein imperialistische Westen. In vielerlei Hinsicht wird das „Erinnern als höchste Form des Vergessens“ missbraucht, wie der Titel eines instruktiven Sammelbands lautet, der hier ein Bonmot von Eike Geisel zitiert.
Auch der zweite Vorwurf – des Provinzialismus – der „den Deutschen“ und der Holocaustforschung gemacht wird, geht somit im Kern an der Sache vorbei. Dass große Teile letzterer nach wie vor auf der Präzedenzlosigkeit der Shoah bestehen, hat nichts mit borniertem Provinzialismus zu tun, sondern mit einer seriösen Interpretation einer in dieser Hinsicht schlagenden Faktenlage.
So war die Shoah eben weder ein kolonialer Genozid (auch wenn dem Vernichtungskrieg im Osten durchaus koloniale Züge eigneten), noch ein „kompensatorisches Unternehmen“, mit dem sich die ihrerseits kolonisiert fühlenden Deutschen gegen die Imago jüdischer Kolonisatoren erwehrten (wie etwa Dirk Moses erkannt zu haben glaubt). Sie ist auch nicht, wie etwa Steffen Klävers gezeigt hat, als Bumerang, als sogenannter „Choc en Retour“, aus dem Trikont zurück nach Europa geflogen, wie zahllose postkoloniale Akteure im Anschluss an ihre bloß selektiv gelesenen Vordenkerinnen und Vordenker meinen. Die bei antikolonialen Denkern wie Hannah Arendt, W.E.B. Du Bois und Aimé Césaire keineswegs apodiktisch formulierten Thesen einer kolonial erprobten Gewalt, die dann nach Europa zurückgeschlagen sei, werden von postkolonialen Aktivisten oft als eherne Dogmen behandelt.
Doch die geschichtswissenschaftlichen Fakten sprechen nun einmal eine andere Sprache: Wie Ingo Elbe jüngst noch einmal treffend dargelegt hat, ist die Shoah eben kein Element eines „biopolitischen Kontinuums“ gewesen, oder gar eine Art „ Nomos der Moderne“; kein Laboratorium der Menschenkontrolle und totalitären Modellierungsversuche; kein Konzentrationslager en miniature im großen KZ der durchherrschten Gesellschaft; kein bloßes Eingeschlossensein der Ausgeschlossenen; und sicher kein auf „Macht“ reduziertes Unterfangen, wie Rothberg und Co. im Anschluss an Arendt, Foucault und Agamben zu wissen vermeinen.
Das NS-System zielte nicht auf völlige Beherrschung, sondern auf völlige Vernichtung der Juden. Sein ideologisches Herzstück war der Antisemitismus, der den Juden zum gefährlichen Zersetzer der Völker, zur ewigen Gegenrasse halluzinierte, die vom Antlitz der Erde getilgt werden musste.
Weil sie sich weigern, den Antisemitismus zu begreifen, als unikale Weise des Denkens und Fühlens, die keine bloße Subform des Rassismus bezeichnet, weil sie das Spezielle jener Ideologie zugunsten einer „machtkritisch“ schablonisierten Kritik an der westlichen Moderne ignorieren, sind postkoloniale Denker meist nicht in der Lage, die Spezifik der Shoah adäquat zu verstehen.
Katechismus der Israel-Dämonisierung
Nun könnte man die stetige Erkenntnisblockade der postkolonialen Theorie-Aktivisten und all der Kunst- und Kulturbürgerinnen, die die Welt heute durch deren Schablonen betrachten, auf den in den Sphären des Postmodernismus nicht unüblichen Hang zu einem frei flottierenden, kreativen Umgang mit der Wahrheit zurückführen. Die Fehldeutung aber ist kein Zufallsprodukt einer postmodernen Erkenntnistheorie, und mehr als das Ergebnis narzisstischer Kränkung durch das präzedenzlose Verbrechen an den Juden, das das Vorurteil der jüdischen Besonderung nährt.
Dass besagte Akteure weder Antisemitismus, noch die Shoah ins Begreifen bekommen, ist bewusste oder unbewusste „Absicht“ dieses Denkens; ja die transzendentalphilosophische Bedingung dessen unirritierbarer Weltwahrnehmungweise.
Das ganze Unternehmen der Shoah-Relativierung sowie das chronische Ausblenden von Antisemitismus – und so die akademische Unredlichkeit – sind dem Primat des Aktivismus geschuldet, der, wie Bálasz Berkovitz treffend erklärt, die empirischen Befunde im Voraus fixiert. Die Blindheit für Holocaust und Antisemitismus steht in Diensten jenes für den Postkolonialismus eben kennzeichnenden Dogmas des Antizionismus. Dieses wiederum kommt zum einen sicherlich schlichtweg durch den hergebrachten Judenhass zustande, respektive ist ein Ausdruck desselben.
Zum anderen aber ist dieses Dogma auch nötig, um das basistheoretische Framework zu wahren, das die Welt in einen oppressiven Norden auf der einen und einen subalternen Süden auf der anderen Seite spaltet. Die spezifische Verfolgungsgeschichte der Juden und ihre nach wie vor leidvolle Gegenwart können in dieser an der „Colourline“ vollzogenen Ziehung der Grenze keinen Platz innehaben, weil sie den Fixstern einer unterkomplexen Geopolitik- und Gesellschaftsanalyse immer wieder aufs Neue irritieren. Israel und so auch der Konflikt mit seinen Nachbarn sperren sich gegen einfache Erklärungsversuche – und werden oft gerade deswegen einfach erklärt.
Dass der Zionismus seit Theodor Herzl – als jüdisches Selbstermächtigungsprojekt gegen Pogrome und Diskriminierung, als rettender Gegen-Nationalismus – allerspätestens mit der Shoah zu einem unumgänglichen Erfordernis wurde; dass der jüdische Zwergstaat elementar ward, als Schutzhafen vor der Vernichtung von gestern, als Schutzhafen vor der Vernichtung von morgen, könnte in der postkolonialen Betrachtung nur bei erheblichen Modifikationen des theoretischen Grundgerüsts anerkannt werden – heißt, man müsste das Schwarz-Weiß-Denken tilgen und über die „Colourline“ hinausdenken lernen, oder anders: sich mit Antisemitismus befassen.
Wenn man anerkennen würde, dass der Antisemitismus in letzter Konsequenz die Vernichtung zum Ziel hat(te); dass ihm keine Formel simpler Abwertung eignet; er kein Rassismus ist, den „Weiße“ an „Weißen“ vollstrecken, sondern dass den Juden die Rolle des Bösen von den Kirchenvätern gleichsam auf den Leib geschneidert wurde; dieses Muster im Märchen einer Substitution vom Juden- durch das Christentum prädisponiert ist und die okzidentale Geschichte durchdringt wie kaum eine andere kulturelle Matrix; wenn man mithin verstünde, dass jener Wahn, der die Erlösung durch Vernichtung erhofft, unter den politökonomischen Bedingungen nicht nur des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern auch der Gegenwart immer wieder droht, sich als ein falsches Bewältigungsmittel der unbegriffenen Gesellschaftsverhältnisse und rezidivierenden Krisen zu empfehlen; wenn man Antisemitismus also ernst nehmen würde, die Gefahr, die für Jüdinnen und Juden von ihm ausgeht, das Leiden, das er dieser Tage weltweit verursacht, auch dann, wenn er lediglich spontan eruptiert, (oder auch bloß symbolisch daherkommt, in der rituellen Delegitimierung Israels,) und sich (noch) nicht zum staatlichen Projekt zusammenballt – dann könnte man nicht anders, als anzuerkennen, dass es ein jüdisches Israel braucht, als einzigen, winzigen Ort auf der Welt mit einer jüdischen Mehrheitsgesellschaft, in der Juden schlicht als Menschen unter Menschen leben können – und nicht als Projektionsflächen zahlreicher Übel.
Wenn man die spezifischen Entstehungsbedingungen des seit seiner Gründung von Vernichtung bedrohten Israels adäquat in den Blick nehmen würde, müsste man sicher zu der Einsicht gelangen, dass das Land eben nicht als koloniales Projekt, sondern als antikolonialer Flüchtlingsstaat reüssierte; dass hier keine „weißen“ Kolonialherren leben, sondern jüdische Geflüchtete aus aller Herren Länder, aschkenasische, misrachische, äthiopische Juden.
Ihrer habituell-äußerlichen Buntheit zum Trotz werden die Israelis im postkolonialen Diskurs dabei jedoch oft ohne jede Ambivalenz als „weißgewordene“ „Zionisten“ dämonisiert, die zwar früher einmal unterdrückt worden seien, sich nun aber ins Lager der Unterdrücker geschlagen hätten. So gilt Antisemitismus hier eben häufig bloß als eine letztlich vernachlässigungswürdige Form des Rassismus, die lediglich während der NS-Zeit grassierte, während Juden, wie Abigail Bakan fabuliert, nunmehr als „white by permission“ erscheinen.
Eine ähnliche Operation hatte schon der Altvater des Postkolonialismus selbst vollzogen.So apostrophiert Edward Said die Palästinenser als die neuen Juden, die nun von den zu Tätern gewordenen ehemaligen Opfern malträtiert würden, die letztlich gar keine „Juden“ mehr seien.Derlei hermeneutische Hanswurstiaden sind in Critical Race Theorie und Postcolonial Studies dabei schlicht notwendig, um die theoretischen Grundannahmen einer bipolaren Welt nicht zu gefährden.
Der manichäischen Teilung in Unterdrücker und Unterdrückte und das Saidsche Orientalismus-Konzept haben dabei, wie seinerseits schon der syrische Philosoph Sadiq al-Azm erkannte, erstens einen plumpen Okzidentalismus zur Folge, der sich durch eine dämonisierende Ablehnung des Westens und dessen ethisch-politisch-epistemischer Struktur insgesamt auszeichnet. Zweitens eignet besagtem Theoriegebäude auch eine eigene orientalistische Projektion. Dort nämlich, wo die Menschen des globalen Südens, und zuvörderst die Palästinenser, zu grundguten und stets passiven Indigenen (letztlich den „edlen Wilden“) verklärt werden, die auf den abgrundtief bösen und „siedlerkolonialistischen“ Zionismus als vermeintlich schrecklichster Form des Kolonialismus lediglich reagierten. Auch der antizionistische Historiker Ilan Pappe orientiert sich an einem solchen postkolonialen bzw. siedlerkolonialistischen Manichäismus, wenn er vollkommen ahistorisch suggeriert, die Welt der Palästinenser sei vor der zionistischen Immigration eine harmonische, friedliche und prosperierende Gemeinschaft gewesen, die vom abstrakten, kalten, technologieaffinen Zionismus aus dem Gleichgewicht gebracht wurde – und dessen Texte sich teilweise lesen, wie die Schilderung des Krieges zwischen Mordor und dem Auenland.
Nun ist die okzidentalistische Erzählung, derzufolge sich eine vermeintlich „natürliche“ und „indigene“ Kultur gegen einen entfremdeten westlichen Leviathan behauptet, grundsätzlich anschlussfähig für antisemitische Wahrnehmungsmuster. Beklagt der antisemitische Antimodernismus doch stets eine hyperzivilisatorische Zerfaserung der in einem angeblich goldenen Zeitalter ehedem mit sich und der Natur im Einklang befindlichen Gemeinschaft – wobei der Jude als Medium der Zersetzung erscheint, als personifizierte Plage der Moderne. Nicht von ungefähr hatte der für die Denkformen der Postmoderne konstitutive Fundamentalontologe Martin Heidegger einst insinuiert, die Juden seien im Holocaust von ihrer eigenen Machenschaft, dem „Gestell“ der Technik aufgezehrt worden. Der Übergang vom „westlich“ gelesenen Juden zum „jüdisch“ gelesenen Westen ist jedenfalls stets fließend.
Ob die postkoloniale Theorie, so sie sich mit Israel beschäftigt, ob ihrer eigentümlichen „Gute-Indigenität-gegen-böse-Zivilisation-Beschaffenheit“ (in vielen Fällen) das historische Strandgut des Antisemitismus aufliest oder der Antisemitismus umgekehrt manche der sich mit Israel beschäftigenden postkolonialen Ideologen zu ihrem manichäischen Denken geführt hat, ist letzten Endes eine müßige Frage. Tatsache ist, dass ein obsessiver Antizionismus, der sich nicht selten klassisch antisemitischer Motive bedient, ein zentrales Ideologem des zeitgenössischen Postkolonialismus darstellt.
Und dass in Diensten dieses Antizionismus nicht nur eine falsche Gleichsetzung zwischen dem Nationalsozialismus und dem Kolonialismus erfolgt, sondern auch eine falsche Gleichsetzung zwischen dem Kolonialismus und dem Zionismus. Wenn durch diese im akademischen, kulturellen, und künstlerischen Feld vielfach hegemonial gewordenen programmatischen Differenzierungsaversionen weltweit nun mehr längst ein Narrativ dominiert, das den Holocaust lediglich als Fortsetzung der Kolonialverbrechen mit anderen Mitteln missversteht, während der Zionismus zugleich als letzte Bastion des westlichen Kolonialismus diffamiert wird, ist die Kette der Äquivalenzen komplett und mithin die Umkehr von Täter und Opfer: Die Juden erscheinen als die Nazis von heute.
(De)Kolonialisierung der Shoah, Holocaustisierung des Nahostkonflikts
Kolonialismus gleich Nationalsozialismus gleich Zionismus. Dieser ahistorische und polittheoretisch irrlichternde Dreischritt stellt die Grundformel des zeitgenössischen Revisionismus dar, die durch postkoloniale Narrative genährt wird, doch sich mitnichten auf diese beschränkt, im Gegenteil, zumindest in raunendem Ton auch in weltweiten Feuilletons angedeutet wird; für die Kunst- und Kulturszene wohl ohnehin gilt, zumal seit dem Epochenbruch des 7. Oktober und Israels Feldzug gegen die Hamas. War die Nazifizierung der Israelis bereits in der antiimperialistischen Neuen Linken seit 1967 verbreitet – und dies damals insbesondere in Deutschland – hat derlei Irrsinn in der postkolonial imprägnierten weltweiten Geisteswissenschafts-Hemisphäre heute längst in Curricula Einzug gehalten. Der Dekolonialismus-Star Rámon Grosfoguel bringt diese Inversion präzise auf den Punkt: „Der Hitlerismus als Fortsetzung der kolonialen rassistischen Ideologie kam zurück, um die Palästinenser zu jagen, diesmal durch die Hände der europäischen Juden (…)“
Bereits die erste der drei Gleichungen, die wissenschaftlich scheinende, doch faktisch nicht haltbare Konnex-Behauptung des kolonialen Kosmos mit dem Unstaat des NS, scheint dabei zuvörderst strategisch intendiert. Wie Steffen Klävers in seinem Werk Decolonising Auschwitz? gezeigt hat, ist die Derealisierung eines im Rahmen der Shoah in entgrenzter Vernichtung kulminierten Erlösungsantisemitismus die Voraussetzung dafür, den jüdischen Staat zu delegitimieren. Nur wer das Präzedenzlose losgeworden ist, die Spezifika des Judeozids nivelliert, kann das Existenzrecht Israels verwerfen, weil es die Schutzstatt dann letztlich nicht braucht. Dies ergänzend, kann man konstatieren, dass nur wer die Geschichte der Juden verdrängt, und somit die Notwendigkeit einer Flucht nach Palästina, auch den zweiten Schritt des Gedankengangs gehen kann, Israel zum Kolonialstaat zu erklären – und damit umfassend zu dämonisieren. Die Pointe der antisemitischen Verkehrung, in der die Shoah als koloniales Projekt und Israel als letztes Kolonialregime erscheint, ist die Nazifizierung des Jüdischen Staats und die Holocaustisierung des Konflikts im Nahen Osten.
Während die Nazis ihr Böses auf die Juden projizierten, jenen eine Absicht zur Vernichtung unterstellten, die sie sich dann anschickten, komplett zu vernichten, wird der seit seiner Gründung existenzbedrohte Staat, den die Juden sich als Schutzort vor den Gaskammern bauten, nun wiederum als absolutes Böses gebrandmarkt, und perfiderweise noch mit denen gleichgesetzt, die die Judenvernichtung einst ins Werk gesetzt hatten. Und dies nicht nur paradoxerweise von jenen, die sich ideologisch tatsächlich als Schüler der antimodernistischen Ideologie und des Antisemitismus der Nazis erweisen (so der Islamismus der Muslimbruderschaft, aber auch der panarabische Nationalismus), sondern auch von ihren zahlreichen Claqueuren im Westen, den wassermelonischen „Neuesten Linken“, die mit den zu Befreiern verklärten Islamisten zur gegenaufklärerischen Querfront verschmelzen.
Nun ist die besagte Reductio ad Hitlerum, das Ranrücken jedweden Leids an die Shoah, zunächst auch ein PR-Tool der Aufmerksamkeitmärkte, nicht notwendig antisemitisch intendiert, und kommt letztlich überall und immer wieder vor. Indessen fällt nicht erst seit dem 7. Oktober – seit diesem jedoch nochmal gehörig potenziert – die allenthalben obsessive Praxis ins Auge (die nirgendwo sonst auf einem solchen Niveau ist), Israel mit Nazivergleichen zu schmähen und eines vermeintlichen Genozids zu zeihen, also jener Form von exzessivem Menschheitsverbrechen, das im Anschluss an den Holocaust zum Terminus wurde – und damit einerseits den Holocaust zu relativieren und andererseits den jüdischen Staat zu verteufeln.
Aus einer Restangst vor dem Vorwurf des Antisemitismus – die nach zwei Jahren Gaza-Krieg fast völlig verpufft ist – gerne mit vermeintlich koscherem Stempel durch jüdische Hardcore-Antizionisten, wie etwa Amos Goldberg oder Omer Bartov, die bereits kurz nach dem 7. Oktober auf sämtlichen Kanälen vom Genozid raunten.
Die Delegitimierung und die Dämonisierung als israelbezogene Antisemitismen greifen dabei oft auf Strategeme zurück, die subtiler funktionieren und sich schwerer kontern lassen: den doppelten Standard und die Derealisierung, die die ersten beiden Formen scheinbar plausibilisieren. Auch wenn vor allem die Netzhemisphäre gleichsam vor Vernichtungsfantasien überquillt und es an Memes, die Netanjahu mit Fangzähnen zeigen, sich gütlich tuend am Blut palästinensischer Kinder, auf Facebook, Instagram und TikTok nicht mangelt, ist vor allem das Mittel der Derealisierung zur beliebteren Form eines weniger plumpen und scheinbar seriösen „Kritisierens“ geworden.
Wenn eine Masha Gessen (vor dem 7. Oktober) die Lage im von Israel genau wie von Ägypten abgeriegelten Küstenstreifen Gaza mit jener im Warschauer Ghetto vergleicht, fällt mit Blick auf die geschichtsklitternde Nazi-Inversion ein eklatanter Mangel an Urteilskraft auf (oder eine absichtsvolle Niederträchtigkeit). Gessen lässt wie zahllose andere „Denker“ routiniert das Entscheidende weg – erst durch Derealisierung klappt die Dämonisierung. Sie fokussiert auf tatsächliches Leiden vor Ort, doch verschweigt, dass die von den Palästinensern nach wie vor mehrheitlich gestützte Hamas seit dem Abzug der Israelis 2005 fünf Kriege gegen Israel vom Zaun gebrochen hat, Milliarden an Hilfsgeldern im Bauen von Tunneln und nach Israel feuernder Raketen versenkt hat, anstatt ein funktionierendes Gemeinwesen zu bauen; dass bis heute sehr viele Palästinenser alle „Zionisten“ ins Meer treiben möchten; dass dem Islamismus die seit langem proklamierte Vernichtung der Juden blutiger Ernst ist und es hier niemals einen Hang zum Pragmatismus geben wird; dass ohne besagte Blockade von Gaza der 7. Oktober wohl zum Alltag geriete; dass ein anderes Palästina eine Möglichkeit wäre, und dessen Ausbleiben keineswegs nur mit dem Likud und mit fanatischen Siedlern zu tun hat, sondern sehr viel mit den Führungen der Palästinenser und ihren vermeintlichen Freunden im Westen. Dass die Menschen im Warschauer Ghetto aus völlig anderen Gründen dort eingepfercht waren, wartend auf den unumgänglichen Tod, und abgesehen vom notwendig scheiternden Aufstand wirklich keine Chance hatten, Subjekte zu sein, die durch Handeln auf ihr Schicksal hätten Einfluss nehmen können, scheint Masha Gessen dabei nicht zu interessieren – das Primat ist die Israel-Dämonisierung, das Bauchgefühl bügelt die Geschichte zurecht. Gessen fräst die komplexe Konfliktlage, wie heute wohl die Mehrheit der Menschen auf dem Globus, in das simple Schema von Täter und Opfer, desubjektiviert die Palästinenser, und derealisiert Politik und Geschichte.
Ähnliches kann man über Omer Bartov sagen, wenn er – dies nur ein Beispiel von vielen – die leeren Behausungen ermordeter Juden in der von den Nazis besetzten Ukraine mit den Häusern der Palästinenser vergleicht, die nach deren Flucht und auch teilweisen Vertreibung im Kontext des Unabhängigkeitskrieges, den Israel seit 1947 führen musste, verwaist waren und von Juden bezogen worden sind. Was Bartov in seinem Vergleich nivelliert, ist, dass jenes Nakba genannte Ereignis sich im Kontext eines Vernichtungsfeldzuges erst der Arab Liberation Army und dann sechs arabischer Nationen vollzog, die den Judenstaat nach der UN-Teilungserklärung des britischen Mandats-Gebietes Palästina (die von den Juden angenommen und von den Arabern abgelehnt wurde) und der anschließenden Staatsgründung dem Erdboden gleichmachen wollten. Dass dem Unrecht, das Palästinensern widerfuhr, hier ein erklärter Eliminationskrieg voranging – so wie den Kriegshandlungen heute der 7. Oktober, der von vielen entweder gar nicht mehr erwähnt oder zu einer Marginalie erklärt wird – wird von Bartov geflissentlich verschwiegen, so wie von zahllosen Kommentatoren.
Wenn derselbe Omer Bartov zusammen mit Akteuren wie Stefanie Schüler-Springorum und dem besagten Dirk Moses bereits im November 2023 einen offenen Brief unterschreibt, in dem eine Kontextualisierung des Massakers vom 7. Oktober gefordert wird – und dabei auf die Staatsgründung, die Besatzung seit 1967 und die Blockade des Gaza-Streifens verwiesen wird – fällt wieder auf, dass jene völlig einseitig ist, der Kontext ein radikal selektiver bleibt – was es einfach macht, Israel zum Bösen zu erklären. Dies gilt auch für die in den meisten Medien insinuierte Behauptung, die Israelis würden den Palästinensern ihren Staat verweigern, sowie die wohlfeile Symbolpolitik einer Anerkennung desselben durch europäische Regierungschefs. Dass das Scheitern des Friedensprozesses nicht bloß an israelischen Hardlinern oder der Ermordung Jitchak Rabins durch einen jüdischen Extremisten, sondern mindestens so sehr am Terror der Palästinenser und der Renitenz der Fatah liegt, wird in der Regel komplett unterschlagen. Dass letztere mit ihrem halsstarrigen Beharren auf dem sogenannten Rückkehrrecht sämtlicher Nachfahren der 1948 Emigrierten auch ins israelische Kernland wenn überhaupt nur einer Zwei-Staaten-Lösung zustimmen würde, die neben einem „judenreinen“ Palästina einen zweiten Staat realisierte, in dem die Juden nicht mehr in der Mehrheit leben würden, was Israel freilich nie annehmen könnte, spielt in den meisten Debatten keine Rolle. Dass die allseits bemitleideten Palästinenser schon mehrfach ihren eigenen Staat hätten haben können, dass es hier zahllose Angebote gab (zum Beispiel 1937, 1947, Ende der 1960er, 2000, 2008 und 2014), dass sie nicht die passiven absoluten Opfer sind, sondern Subjekte, die in ihrer Geschichte nicht wenige falsche Entscheidungen getroffen haben, und viele den Terror auch gegen Zivilisten nach wie vor jeder Kompromisslösung vorziehen, was ihrem Volk leider sehr großes Leid eingebracht hat, wird in den Nahost-Debatten kaum je erwähnt.
Aus projektiven Gründen werden Geschichte und Gegenwart allenthalben in das überlieferte Muster von der bösen Besatzungsmacht und den guten Indigenen gepresst, womit der arabisch-islamische Antisemitismus als maßgebliche Ursache des sogenannten Nahostkonflikts unsichtbar gemacht wird.
Dass gerade die delegitimierenden, dämonisierenden, derealisierenden und mit doppelten Standards verfahrenen Aussagen jüdischer Antizionisten dem antisemitischen Ressentiment in postnationalsozialistischen Zeiten gelegen kommen, ist dabei offenkundig. Jedenfalls wird die jüdische Schützenhilfe dankbar aufgenommen. So bezieht sich etwa auch eine wiedergutgewordene deutsche Starphilosophin nicht nur auf ihren SS-Großvater, wenn es darum geht, für die heutigen Gräueltaten der einstigen Opfer vermeintlich ein besonderes Augenmerk und eine spezielle Verantwortung zu haben, sondern zieht auch den besagten Omer Bartov heran, um beinahe stolz verkünden zu können, nun auch endlich „Genozid“ sagen zu wollen, um den israelischen Krieg zu bezeichnen. Dieses Muster ist medial massenhaft präsent: Mindestens latent, aber oft auch explizit, werden irrlichternde Holocaust-Vergleiche bemüht. Und je exzessiver sich die „Israelkritik“ ausnimmt, desto wahrscheinlicher werden jüdische Zeugen bemüht.
Ob sich deren obsessiver Antizionismus einer Externalisierung des Hasses verdankt, den man lebenslang gezwungen war, zu internalisieren, und der nun auf Israel ausgelagert wird; einer Anbiederung an ein linkes Milieu, dem man nur auf diese Weise zugehören kann; oder einem Hyper-Diasporismus, der „den Juden“ als antiidentitäres und historisch gewaltloses Subjekt wahren möchte, dessen „Wesen“ sich nur in der „Wurzellosigkeit“, im Nicht-Wesenhaften zu entfalten vermöge, während „Zionisten“ dieses Wesen verrieten und sich außerdem gewaltsam die Hände schmutzig machten, (oder sich die unbotmäßige „Kritik“ einiger jüdischer Intellektueller einer Mischung aus diesen Phänomenen verdankt) kann und soll hier nicht Gegenstand sein; muss im Einzelfall ein Psychoanalytiker klären. Auf jeden Fall hat der dekonstruktivistische Philosemitismus, der den guten Diasporajuden vom bösen Nationalstaatsjuden abgrenzt und damit ein postmodernes Jewsplitting betreibt, ideengeschichtlich starke Wirkungen entfaltet. Als „Juden“ gelten hier oft nicht nur jene Jüdinnen und Juden, die sich wie Judith Butler einen kämpferischen Diasporismus auf die Fahne geschrieben haben, sondern alle Menschen, seien sie nun Juden oder nicht, die aus Auschwitz den Schluss gezogen haben, ihr Heil im Post-Nationalen zu finden. Der sich auf sein Reterritorialisierungsprojekt fokussierende Jude aber, der als Holocaustüberlebender aus Auschwitz den gegenteiligen Schluss zieht, dass das eigene Überleben und der Bestand des Judentums überhaupt nur durch einen jüdischen Nationalstaat garantiert werden kann, wird als unbelehrbarer Verfechter eines anachronistischen Ethnizismus geziehen. Er wird als blinde und letzte Verkörperung einer menschenfeindlichen „politischen Metaphysik“ dämonisiert, und wie im paulinischen Antijudaismus als störrischer Anachronismus betrachtet, der sich weigert, sich in einer universalen, besseren Seinsweise aufheben zu lassen.
So ist der Jude im Antisemitismus, auch in jenem von der Postmoderne geprägten, immer beides: In einer partikularistischen oder nationalistischen Perspektive (wie auch in jener des rekonstruktivistischen Postkolonialismus) gilt er als Feind der Nationen und anderer vermeintlich urtümlicher Gemeinschaften, sowie als personalisierter Verursacher der unbegriffenen und als Zumutung empfundenen Widersprüche der Moderne – in einer universalistischen oder internationalistischen Perspektive (wie auch in jener des dekonstruktivistischen Poststrukturalismus) aber gilt er im Rahmen einer säkularisierten Variante des paulinisch-substitutionstheologischen Antijudaismus als der letzte störrische Vertreter eines toxischen Identitätsparadigmas.
Dabei zeigt sich, dass Juden stets entweder als paradigmatische Täter oder als entspezifizierter Opfertropus gelesen werden, nicht selten aber auch als beides zugleich. Zugespitzt formuliert: Antisemitische Antisemiten ertragen es nicht, Juden als Opfer zu sehen. Sie müssen Täter sein. Philosemitische Antisemiten ertragen es nicht, Juden als Täter zu sehen. Sie müssen Opfer sein. Im Jewsplitting wird der „gute Jude“ als diasporisches Opfersymbol bewahrt, und vom „bösen Juden“, dem Zionisten abgespalten. An letzterem kann sich das verinnerte Ressentiment dann auf philosemitisch eingehegte Weise abarbeiten, ohne eine Identifikation mit „den Juden“ als zeitlosem Opfertropus aufgeben zu müssen.
Das „Nie wieder“ des Erlösungsantisemitismus
Wie dem auch sei, die Meinung, Israel verübe einen Genozid, und sei irgendwie das Nazi-Imperium von heute, hat sich – spätestens im Anschluss an den 7. Oktober – auf allen Kontinenten popularisiert.
Den ubiquitären Genozid-Agitprop zu problematisieren, wo ein solcher den Nachfahren der Holocaust-Opfer unterstellt wird, die sich mit Krieg gegen jene erwehren, die eben jenen Holocaust fortführen möchten (so wie es die erklärte Vernichtungsintention und die Praxis der Hamas-Islamisten offenbart, die die Juden als den Urgrund des Bösen erachten), stellt umgekehrt kein beharrliches d’accord mit der Form der israelischen Kriegsführung dar, und mit Kriegsverbrechen gegenüber Zivilisten. Es bedeutet keineswegs, einen ähnlichen Fauxpas wie die postkolonial geprägte Linke zu begehen – sich in absoluter Abwehr der mentalen Dissonanz, die ein nicht zu ertragenes Leid evoziert, in einem theoretischen Bunker zu verkapseln, der jede Empirie, die nicht passt, ignoriert. Es bedeutet mitnichten die Vertreibungsvisionen der Smotrichs und Ben-Gvirs nicht zur Kenntnis zu nehmen – die Dämonisierung des jüdischen Staates mit unbeirrbarer Verheiligung zu kontern. Es heißt ferner auch nicht, schlechterdings zu behaupten, die teilextremistische Regierung Netanjahu könne partout keinen Genozid begehen. Die Tat kann dem Urteil potenziell folgen.
Im Falle Israels aber gilt es zu betonen, dass das Urteil immer schon ausgesprochen war, dass der Vorwurf des Völkermords an jenem Tag aufkam, als die islamistisch-faschistische Sekte, welche die Regierung im Gazastreifen stellt, unter großem Beifall der arabischen Straße das schlimmste Massaker an Jüdinnen und Juden seit dem Zivilisationsbruch von Auschwitz vollführte. (Und inzwischen wurde „Genozid“ so oft gesagt, dass dieser deshalb schon vielen als „die Wahrheit“ erscheint.)
In antisemitismuskritischer Optik fragt sich indes, warum große Teile der Menschheit losgelöst vom Wissen um die „Facts on the Ground“ und mit empirischen Fragmenten, die nicht hinreichend sind, eine genozidale Intention zu bezeugen, doch geifernd die Genozid-Erzählung rezitieren; warum NGO’s wie Amnesty und Staaten wie Irland gar die Modifikation des Genozid-Begriffs fordern, damit das Wort schließlich besser zu den Kriegshandlungen passt; warum immer wieder radikal antizionistische und akademisch zweifelhafte Institutionen als unwiderlegbare Quellen zitiert werden; warum die Hamas-Infos oft als valide, die der IDF aber als unglaubwürdig gelten. Es fragt sich, weshalb die großen Gremien der UN seit dem 7. Oktober 2023 zahllose Resolutionen verfasst haben, die den Staat Israel aufs Schärfste verurteilen, ohne die Hamas und die Geiseln zu erwähnen (was ihrer gängigen Praxis entspricht, da doch Israel von mehreren Gremien der UN seit dem Jahr 2000 häufiger verurteilt worden ist, als alle anderen Länder zusammen) und es bis zum neuerlichen Friedensplan Trumps weltweit weder medial noch politisch nennenswerten Druck auf die Hamas gegeben hat, die den Krieg mit ihrer vollständigen Kapitulation und der Befreiung der Geiseln hätte enden lassen können. Es fragt sich, weshalb das „Reasoning“ des Leidens mithin einen eklatanten Bias offenbart, der die Mitschuld der ihre Bevölkerung misshandelnden, vom Todeskult besessenen Hamas nivelliert, und den Bewohnern Palästinas den Akteurs-Status nimmt, die trotz mehr als hundert Jahren exzessiver Gewalt und antizionistischer Vernichtungsagenda meist nur als harmlose Opfer erscheinen.
Unabhängig von der legitimen Kritik an politischen Befehlen und militärischen Aktionen, an zahllosen Fehlern sowie Verbrechen, die Israel im Feldzug in Gaza beging, drängt sich die Frage auf, welche Funktion die „Israelkritik“ für die Kritiker erfüllt. So gilt es zu erklären, warum dieses Land mit der Größe des deutschen Bundeslandes Hessen so viel affektive Energie auf sich zieht (im Gegensatz etwa zum umkämpften Sudan), und trotz wenig Ahnung der allermeisten Menschen von Geschichte und Gegenwart des jüdischen Staats mit sehr viel Meinung zum Übel erklärt wird.
Wieder ist die Rolle „des Juden“ zu nennen, die dieser seit dem Anbruch der christlichen Welt – und anders nuanciert seit der westlichen Moderne – im geistigen Haushalt der okzidentalen, (und orientalischen) Gesellschaften bekleidet: Das personifizierte Antlitz des Bösen, welches, wie Adorno und Horkheimer meinten, gleichsam „den Willen zur Vernichtung auf sich zieht“, der in der von den Verhältnissen bedrängten Kreatur als falsche Reaktionsweise ausgelöst wird. Wie sich der Antijudaismus als zentrales Element der christlichen (und der islamischen) Weltsicht im Antisemitismus der Neuzeit erhält – der die „Mentalität“ der Moderne durchwirkt – hat sich die Geschichte des Hasses auf die Juden indes heute vornehmlich im Antizionismus konserviert. Denn das postnationalsozialistische Über-Ich hat den ontologischen Antisemitismus in der Folge der Shoah als ein No-Go markiert. In der „Israelkritik“ und dem Hegen der Opfer des bösen zionistischen Molochs erhält der durch die Schande von Auschwitz bedingte antisemitische Affektstau ein Ventil. Der „Jude unter den Staaten“ wird zum Blitzableiter des antisemitischen Emotionsgewitters. Nun soll der Judenfeind wieder, was er will, und lebt seinen Hass ohne Dissonanzen aus, wie Jean Améry wohl als erster erkannte. Die schon mit der Staatsgründung Israels begegnende, 1967 popularisierte und seit 10/7 nunmehr ubiquitäre Täter-Opfer-Umkehr ist das Resultat des im kulturellen Habitus tradierten Bedürfnisses, „die Juden“ als das absolute Böse zu begreifen.
Im Falle des meist tunnelperspektivisch angestarrten, tatsächlich aber hochkomplexen Kriegs im Nahen Osten muss man indes weitere Funktionen addieren, die die Attraktivität dieser Optik verstärken. Dass nun also auch Juden gewalttätig sind, macht es möglich, die kolossale Schuld zu projizieren, die die Judenvernichtung indes nicht nur den Deutschen, sondern auch ihren Helfershelfern aufgebürdet hat. Zum ohnehin bestehenden Antisemitismus gesellt sich somit seine sekundäre Form, die der Juden nicht (nur) trotz, sondern wegen der Shoah als paradigmatischer Täter bedarf.
Doch die Mischung aus dem Prä- und dem Post-Holocaust-Hass, also das durch Auschwitz nochmals verstärkte, doch ohnehin schwelende Ressentiment, adaptiert noch eine weitere Form von Übertragung. Denn für viele Menschen in den Staaten des Westens ist der israelisch-arabische Konflikt ein bewährter und luftdicht verschlossener Container, um den eigenen historischen Müll zu deponieren. Nicht von ungefähr wird der Konflikt im Nahen Osten somit gegen die historische Faktizität durch das projektive Prisma der Rassismus-Geschichte und jener des Kolonialismus betrachtet. Und in den ehemals kolonisierten Regionen, wo ebenfalls Antisemitismus grassiert, wird die leidvolle Vergangenheit der Länder des „Südens“ ebenfalls projektiv an Israel bekämpft. Die Juden fungieren als „prismatische Gruppe“, wie Zygmunt Baumann sich ausgedrückt hat.
So wabert nun also der „jüdisch-okzidental-hitlerische Dämon“ durch die Welt, wie Ingo Elbe dieses projektive Wahnbild genannt hat. Im Kampf gegen den vermeintlich verwerflichen Zionismus können dabei nicht nur wiedergutgewordene Deutsche, sondern auch Bewohner anderer Nationen und Weltgegenden ihre verinnerlichten Ressentiments in eine moralische Haltung verkleiden. Sich fürs Hassen indes selbst ein Kompliment machen zu dürfen, ist psychodynamisch ein großer Gewinn – Fakten kommen dagegen nicht an, das Argument ist dem Ressentiment nicht gewachsen. Es ist schlicht zu attraktiv, den Konflikt im Nahen Osten als Gut-gegen-Böse-Erzählung zu lesen. Hier wird freilich nicht gesagt, dass der jüdische Staat mit seinen Feinden nachsichtig umgegangen wäre, und dass Juden keinerlei Verbrechen begehen oder ihrerseits keine Extremisten sein können – im Gegensatz zu seinen zahllosen Feinden hatte der Mehrheitszionismus jedoch nie eine irgendwie geartete Vernichtungsintention. Anders als zu Zeiten von Treblinka und Auschwitz, sind die Zionisten in der Lage sich zu wehren, und das tun sie, mitunter auch über Gebühr. Dass die Israelis auch Unrecht begehen, kann und soll freilich nicht abgestritten werden.
Doch der israelbezogene Antisemitismus grassiert auch ohne jedes Leid in Palästina, er sucht sich hier bloß eine Gelegenheitsstruktur für die nunmehr ungehemmte Abfuhr des Triebs.
Und je länger das Leiden der Palästinenser im kaputtgebombten Gaza-Streifen fortdauern wird, desto stärker entriegelt sich das Ressentiment; desto mehr Menschen kommen aus der Schweigespirale, befreien sich von der einschlägigen Isolationsfurcht, die mit dem expliziten Kundtun des Hasses auf die Juden nach der Shoah eine Weile verknüpft war; und desto mehr scheint die Gut-gegen-Böse-Erzählung plausibel, zwingend, rundherum wahr. Nun also fühlt man sich darin bestärkt, was man ohnehin schon meinte, zu wissen – dass der Zionismus ein Übel bedeutet, ein Übel, nicht weniger schlimm als der Nazismus. Und weil sich die pathische Projektion politischer Probleme auf Israel im Zeitalter der Polykrise auswächst, man die abstrakte Herrschaft des Kapitalismus und den Albtraum ihrer regressiven Schiefheilungsversuche (des weltweit erstarkenden Autoritarismus) an der personalisierten Entität diffuser Übel – dem kollektiven Juden – sehr gut scheinbekämpfen kann, ist die Israelfrage oft zum Hauptwiderspruch eines hilflosen Progressivismus mutiert, bei radikalen oft genauso wie bei liberalen Linken, die sich wenigstens hier noch als bedeutsam erleben.
Die an zahllosen Hochschulen bemühte Parole Palestine will set us free, als das formelhafte Kondensat des kollektiven Wahns, legt ein beredtes Zeugnis davon ab. Man glaubt die Welt von „neuen Nazis“ befreien zu wollen, doch will sie eigentlich nur vom „ewigen Juden“ erlösen.
In dem was Israel vorgeworfen wird, drückt sich häufig aus, was man ihm antun möchte. Der eliminatorische Antisemitismus zeigt sich heute auch im ubiquitären und wohlfeilen Gebrauch der Nie-Wieder-Parole. Diese hat sich gegen sich selber gerichtet, wohl keine andere Kollektiv-Entität wurde so oft mit dem Schmähwort des Völkermords bedacht, wie das als kollektiver Jude anvisierte Israel, das sich im Krieg mit jenen befindet, die als ideologische Erben der Nazis tatsächlich einen Völkermord durchführen möchten. „Nie wieder“ ist auch Schlagwort der Mörder von heute, sowie ihrer heimlichen und offenen Genossen. Zum wirklichen und redlichen Nie wieder-Projekt muss sich heute ein Nie wieder des „Nie wieder“ gesellen.