Süddeutsche Zeitung, 4.4.2013
Als Georges Bataille im Jahre 1928 mit der pornographischen Erzählung „Die Geschichte des Auges“ reüssierte, tat er dies inkognito, unter dem Pseudonym „Lord Auch“, um sich nicht von Anbeginn und für alle Zeit unmöglich zu machen. Enthält die mehr als obszöne Geschichte in literarischer Form doch schon die Quintessenz seines kontroversen Denkens – das Moment der Grenzüberschreitung, den Taumel der Ekstase, der das Ich in einer zwecklosen Gegenwart zur Auflösung bringt, das Individuum „auf dem Siedepunkt“ aus der Isolation seiner Zufalls-Existenz heraushebt und in einer mystischen Erfahrung mit der Einheit des Seins verbindet.
Georges Bataille, der große Provokateur, Dissident der surrealistischen Bewegung um André Breton, vom sartreschen Existentialismus, der in den fünfziger Jahren den französischen Diskurs dominierte, ins Abseits gedrängt, führte ein vergleichsweise unaufgeregtes Leben als Bibliothekar, das seine schrille Philosophie auf merkwürdige Weise zu spiegeln scheint.
Und nun ist unter dem Titel „Die Aufgaben des Geistes“ ein Band mit Gesprächen und Interviews aus den Jahren 1948 -1961 erschienen, der vor allem die Möglichkeit bietet, dem Mystiker und Erotomanen Bataille hinter seinem zum Teil sperrigen Werk als höflichem und ironischem Spieler zu begegnen, der zwar ausnahmsweise deutlich, aber dabei doch in Fragmenten spricht, sich immer dann zurückzieht, wenn es ihm beliebt. So unterstreichen die zwölf hier zusammengetragenen Gespräche, die das bisher bekannte Portrait Batailles neu facettieren sollen, umso deutlicher, was der Literaturwissenschaftler Peter Bürger seinem Denken konzedierte, dass es etwas „Schlafwandlerisches“ habe: „will man es beim Namen nennen, so stürzt es ab“.
Die Unmöglichkeit diesem Denken begrifflich beizukommen, verweist auf das zentrale Anliegen dieses Denkens selbst – nämlich eine Dimension jener selbstvergessenen Erfahrung zu artikulieren, die mit sprachlichen Mitteln nicht mehr ausgesagt werden kann, weil die diskursive Sprache einer Welt der Differenzen angehört, die in der Ekstase – wenn die Ich-Grenze zum Einsturz kommt – gleichsam für Minuten „im Schlund des Ursprungs“ verschwindet. Wer den dionysischen Rausch nicht selbst er-lebt hat, kann Bataille nicht verstehen. Und durch das Lapidare der Interviewform bleibt diese Erfahrung notwendig noch tiefer im Dunkeln als in Batailles theoretischen oder pornographischen Texten, da die Gespräche weder eine Arbeit am Begriff leisten noch den ich-zersetzenden Sog jener Wort-Kaskaden auslösen können, die dem „obszönen Werk“ seine eigentümliche Faszination verleihen.
Dennoch stößt der Leser (häufig zwischen den Zeilen) auf zentrale Motive seines Denkens. So, wenn Bataille immer wieder die Lebensgeister im Rausch der Angsterfahrung beschwört und wiederholt auf die heilsame Wirkung einer Auflösung jeden Zwecks verweist. Oder wenn er affirmativ über Nietzsche spricht, von dem er den Topos einer dialektischen Beziehung von Ordnung und Ekstase übernimmt. Auch Bataille geht von einer „apollinischen Ordnung“ aus, die momenthaft im „dionysischen Rausch“ zusammenbricht, nur um sich in der anschließenden Katerstimmung, im Ausgang der Ausschweifung neu zu erheben. Um zu bestehen, brauchen Gesellschaften wie Individuen eben beides: die Welt der Vernunft und der „produktiven Akkumulation“ ebenso wie jene des Irrationalen und der „unproduktiven Verausgabung“, den „verfemten Teil“, den die moderne Vernunftkultur zu ihrem eigenen Schaden verbannt habe. Das Perverse, der Tod und die Gewalt lassen sich aber, da ist Bataille überzeugt, niemals vollständig vertreiben. Die archaischen Gesellschaften hätten dies geahnt und dem Abartigen und Grausamen periodisch im rituellen Kontext Luft verschafft. Und nur in diesen ekstatischen Episoden der Grenzüberschreitung – wenn sich die intentionale Struktur des Bewusstseins auflöse – sei der Mensch wirklich „frei“ und „souverän“.
Obwohl Bataille seine Theorie der „Allgemeinen Ökonomie“, der zufolge sich Gesellschaften wie Individuen hin und wieder „unproduktiv verausgaben“ müssen, um sich von überschüssiger Energie zu befreien, in den Interviews nicht erklärt und zudem – so im Gespräch mit Madeleine Chapsal aus dem Jahr 1961 – der Frage nach seinem Begriff des Erotischen beständig ausweicht, ist „Die Aufgaben des Geistes“ mehr als ein Steinbruch abgründiger Aphorismen. So verbindet der Interviewband zumindest in zwei, drei Texten den Denker Bataille mit dem Menschen, der bereitwillig über seine allzumenschlichen Probleme – z.B. das Verhältnis zum ohnmächtigen Vater – Auskunft erteilt. Im Hinblick auf Batailles Philosophie gilt im Übrigen beinahe dasselbe, was er im Text „Die Literatur und das Böse“ über die Erotik verlautbart: „Erotisch ist, wer sich wie ein Kind durch ein Spiel, durch ein verbotenes Spiel faszinieren lässt.“