Der Tagesspiegel, 28.02.2021
Herr El-Mafaalani, seit März vergangenen Jahres gibt es keinen anhaltenden schulischen Regelbetrieb mehr. Sind bereits messbare Auswirkungen der Pandemie auf Schüler:innen aus sozial benachteiligten Familien zu verzeichnen?
Wirklich belastbare Daten gibt es noch nicht. Viele Lehrkräfte erzählen, dass sie die Schüler kaum noch erreichen – wie sollen erst Wissenschaftler da an sie herankommen? Mittels Analogien zu dem, was man grundsätzlich über soziale Benachteiligung weiß, kommt man aber zu dem Schluss, dass die Lage sehr besorgniserregend ist. So weiß man zum Beispiel, dass die Bildungsschere in langen Sommerferien auseinandergeht. Das lässt sich auf die präsenzfreie Zeit in der Corona-Krise übertragen. Viele Menschen glauben, dass das Schulsystem die Bildungsungleichheit erzeugen würde, dabei sieht man jetzt sehr deutlich, dass die Ungleichheit ohne Schulen wächst.
Wo wird Ungleichheit (re)produziert?
In der Familie und im sozialen Umfeld, das ist der Hauptbereich. Außerdem durch das Entscheidungsverhalten der Eltern, etwa im Hinblick auf die Frage, auf welche Schulen Kinder geschickt werden. Der dritte und am wenigsten gewichtige Punkt ist das Bildungssystem selbst. Dieses ist an der eigentlichen Produktion von Ungleichheit kaum beteiligt. Was man dem Schulsystem aber vorwerfen muss, ist, dass es die bereits vorhandene Ungleichheit zu wenig reduziert.
Sie haben einmal gesagt, dass Armut das Talent von Kindern für Lehrkräfte unsichtbar macht. Gilt das in der Krise noch mehr als zuvor?
Wenn Kinder aus bildungsfernen Schichten Kompetenzen haben, drückt sich das habituell anders aus, als wenn Kinder aus bildungsbürgerlichen Milieus etwas können. Die Identifizierung von Talenten vollzieht sich über deren Performance. Die Forschung hat gezeigt, dass Lehrerinnen dazu neigen, jene Talente als solche zu erkennen, die ähnlich ausgedrückt werden wie die Talente ihrer eigenen Kinder. Das ist die Ausgangslage. Unter Pandemiebedingungen verändert sich die Situation dahingehend, dass viele Lehrer vor allem zu den Schülerinnen aus ärmeren Familien oftmals kaum Kontakt halten können. So werden Talente, die ohnehin schwer zu erkennen sind, gänzlich unsichtbar gemacht.
Inwiefern werden strukturell bedingte Ungleichheiten im Homeschooling insgesamt verstärkt?
Insofern, als die am stärksten ungleichheitserzeugenden Aspekte eine noch viel stärkere Rolle spielen als ohnehin schon...