Der Tagesspiegel, 20.9.2020
In den vergangenen Jahren haben immer mehr Personen die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau besucht. Auch andere Orte des Erinnerns der Shoah meldeten in jüngster Zeit Besucherrekorde. Am Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin zum Beispiel fanden sich im Jahr 2019 fast eine halbe Million Menschen ein. Immer häufiger werden die Stelen des Holocaustmahnmals dabei auch als Hintergrundkulisse für Selfies oder als Sitzgelegenheiten für den Verzehr von Bratwürsten missbraucht. Viele Gedenkstätten sind längst in den normalen touristischen Betrieb integriert. Wird der Massenmord von einst zur Massenattraktion? Und was wäre daran problematisch?
Für das Phänomen, dass diverse Orte, die in einem Zusammenhang mit Kriegen, Gewalt oder Völkermorden stehen, verstärkt zu beliebten Reise-Spots werden, hat die englischsprachige Forschung den Begriff „Dark Tourism“ geprägt. „Solche Reisen sind durch ein klassisches Leitmotiv des Tourismus motiviert, nämlich etwas erleben zu wollen und einen aufregenden Kontrapunkt zu den Routinen des Alltags zu setzen“, sagt Frank Bajohr, Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ). Zusammen mit Axel Drecoll, dem Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, und dem Glasgower Tourismusforscher John Lennon, gibt Bajohr nun einen Sammelband zu dem von der deutschsprachigen Forschung bislang kaum beachteten Thema heraus.
Der jüngere Trend des Holocaust-Sightseeings sei vor allem durch den Generationenwandel und das allmähliche Verschwinden der Zeitzeugen bewirkt worden, erklärt Bajohr im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Dadurch, dass die mündliche Überlieferung mehr und mehr zu versiegen droht, verschiebe sich der Fokus der Erinnerungskultur. Das Fehlen der konkreten Erfahrung von Krieg und Massengewalt in den Gesellschaften des globalen Nordens fördere indes das Bedürfnis, eine „authentische Begegnung“ mit der gewaltförmigen Vergangenheit zu machen...