Der Tagesspiegel, 07.11.2021
Gibt es historisch bedeutsame Daten, die jede und jeden zur Erinnerung verpflichten? Moralphilosophisch betrachtet bestimmt – der 27. Januar etwa, Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, legt ein solches Gedenkgebot nahe. Was aber nützt diese ethische Pflicht, wenn Menschen nicht von sich aus zum Gedenken motiviert sind? Erinnerung lässt sich nicht von oben verordnen, nur graswurzelig als Kultur etablieren.
Die Daten, an denen Gesellschaften gedenken, sind insofern symbolisch konstruiert, als sie Geschehnisse repräsentieren, die nicht auf einzelne Tage begrenzt sind. Es ist ja nicht so, als wäre den deutschen und österreichischen Jüdinnen und Juden bloß in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 großes Unrecht widerfahren. Oder als ließen sich die beispiellosen Grausamkeiten der Shoah, derer die Rotarmisten am 27. Januar 1945 Zeuge wurden, in dieses eine kleine Datum verbannen.
Auch der 4. November ist so ein Stellvertretertag. Hier wurde vor zehn Jahren der „Nationalsozialistische Untergrund“ enttarnt, dessen Mitglieder vom deutschen Staat unbehelligt über sieben Jahre hinweg neun Menschen mit Migrationsgeschichte und eine autochthone deutsche Polizistin ermordeten. Ähnlich verhält es sich mit dem 19. Februar und dem 9. Oktober, die Anschlagsdaten von Halle und Hanau, an denen zwar konkrete Verbrechen geschehen sind, die aber letztlich nur Extrembeispiele einer für viele Menschen permanenten Bedrohungs- und Gewalterfahrung darstellen. Wie der 9. November und der 27. Januar beispielhaft für den gut 12 Jahre währenden Terror des NS-Regimes und das menschliche Totalversagen der deutschen Gesellschaft stehen, werfen jene jüngeren Ereignisse Schlaglichter auf einen alltäglichen und zugleich tödlichen Rassismus und Antisemitismus der Gegenwart.
Wenn sich die Mehrheit in diesem Land schon nicht 365 Tage im Jahr daran erinnern möchte, wie furchtbar sich Vergangenheit und Gegenwart für manche Personengruppen darstellten und darstellen, wäre eine Handvoll Erinnerungsdaten wohl kaum des Guten zu viel. Dass sehr vielen Menschen die historischen und zeitgenössischen Daten der deutschen Gewaltgeschichte herzlich egal sind, lässt sich nicht mit „Pflichten zur Erinnerung“ ändern. Sondern durch eine politische Kultur, die vermittelt, inwiefern ein solches Gedenken für unser Selbstverständnis als freie, offene und vielfältige Gesellschaft unabdingbar ist.
Dass es hier nach wie vor viel Ignoranz gibt, liegt sicher auch daran, dass sich zahlreiche „Weißdeutsche“ unbetroffen fühlen, weil sie mindestens implizit davon ausgehen, vom NSU und von anderen Rechtsterroristen seien vornehmlich „die Anderen“ und nicht „wir“ attackiert worden. Die weit verbreitete Gelassenheit gegenüber rassistischen und antisemitischen Anschlägen hat auch mit einer gefährlichen und falschen Fremdmachung zu tun. Ermordet wurden unsere Nachbarn und Freunde, ermordet werden Menschen von hier.
Nun könnte man mit Blick auf den ein oder anderen Gedenktag auf erinnerungspolitische Ambivalenzen verweisen. Der 9. November wird im kollektiven Gedächtnis ja nicht nur als Reichpogromnacht, sondern unter anderem auch als Tag des Mauerfalls gelistet. Die erzreaktionäre Ex-CDUlerin und Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus Stiftung Erika Steinbach wollte das Datum gar zum Feiertag ausrufen. Auch am 4. November wird nicht bloß an eine rechtsextreme Mordserie, sondern zugleich an die große Alexanderplatz-Demo, einen Markstein der friedlichen Revolution in der DDR erinnert.
Was sich die Mehrheitsgesellschaft indes klarer machen sollte, ist, dass diese positiven Gegenereignisse ihrerseits eine Schattenseite haben. So brach mit der deutschen Wiedervereinigungseuphorie auch eine rechtsextreme Gewaltwelle los. Die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, die Mordanschläge von Mölln und Solingen haben in vielen migrantischen Communitys traumatische Wunden gerissen. Für manch anderen sind diese traurigen Ereignisse höchstens Fußnoten einer insgesamt freudigen deutschen Vereinigungserzählung. In Sachen pluraler Erinnerungskultur ist jedenfalls noch Luft nach oben.